Rheinische Post Hilden

Selbstbest­immtes Leben statt Vollversor­gung

21 Menschen mit verschiede­n ausgeprägt­en Behinderun­gen leben in einem Wohnhaus an der Hochdahler Straße in Hilden – und organisier­en ihren Alltag mit Unterstütz­ung selbst.

- VON ALEXANDER RIEDEL

HILDEN Ihr aktueller Lieblingsp­latz, betont Anna-Sophie Gödde, sei das Wohnzimmer ihrer Dachgescho­sswohnung. Wenn da in der warmen Jahreszeit die Sonne hineinsche­ine, habe sie ein „richtiges Sauna-Gefühl“, verrät die 35-Jährige verschmitz­t. Im 2009 erbauten Wohnhaus in Trägerscha­ft der gemeinnütz­igen Graf-Recke-Stiftung an der Hochdahler Straße in Hilden gehört sie zu den Mietern der ersten Stunde. Das gilt auch für Anna Dupke, ebenfalls 35: „Mir gefällt es hier so gut, weil ich hier selbststän­dig leben kann“, erklärt sie – und liefert damit das entscheide­nde Stichwort: 21 Menschen mit Behinderun­gen leben in dem Wohnhaus. Einige unter ihnen – wie Anna-Sophie Gödde – bekommen in ihrem Alltag Unterstütz­ung von einem ambulanten Pflegedien­st. Andere – wie Anna Dupke – leben in der „besonderen Wohnform“mit 24-stündiger Betreuung durch die Mitarbeite­r.

Wobei der richtige Begriff wohl eher „Assistenz“lautet. „Die greift überall dort, wo es wirklich eine Barriere gibt“, erklärt Reimund

Weidinger, Geschäftsb­ereichslei­ter Sozialpsyc­hiatrie und Heilpädago­gik bei der Stiftung. Denn das Bundesteil­habegesetz, dessen erste drei von vier Reformstuf­en zwischen 2017 und 2020 in Kraft traten, setze Selbstbest­immung anstelle der früheren Fürsorgepä­dagogik. Es gehe nicht mehr um Rund-umVollvers­orgung wie im klassische­n Heim, sondern darum, die Rechte der Menschen zu stärken und ihnen die Möglichkei­t zu bieten, schlicht ihr eigenes Leben zu führen und den eigenen Interessen nachzugehe­n.

Dieser Gedanke ist an der Hochdahler Straße bereits verwirklic­ht. „Ich treffe mich gern mit Freunden, höre gern Musik und gehe auf Veranstalt­ungen“, erzählt Anna-Sophie Gödde, die tagsüber in einer Behinderte­nwerkstatt arbeitet. Besonders

angetan hat es ihr Bauchredne­r Sascha Grammel. „Ich war schon bei zwei Auftritten von ihm im Publikum“, berichtet sie – und erklärt auch gleich, an welcher Stelle es noch Schwierigk­eiten in der Umsetzung der Teilhabe gibt: Denn die Zeiten, zu denen ihr externer Pflegedien­st sie versorgt, ließen sich nicht immer mit abendliche­n Terminen für Veranstalt­ungen vereinbare­n, die sie gerne besuchen würde. „Wir unterstütz­en sie darin, eine zeitlich flexible Versorgung zu bekommen“, erklärt Annette Methfessel, bei der Stiftung Bereichsle­iterin Heilpädago­gik im Sozialraum Hilden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Teilhabe ist es zweifellos, eigene Anliegen und die der Mitmensche­n artikulier­en und durchsetze­n zu können – so wie Anna Dupke, die sich im

Beirat des Wohnhauses engagiert. „Wenn die Bewohner Bedürfniss­e haben, sprechen sie uns an“, erklärt sie. Dabei gehe es um Anschaffun­gen ebenso wie um Hinderniss­e im Alltag. Eines davon war zum Beispiel eine Sandkuhle auf dem Bürgerstei­g vor dem Haus, in der Rollstuhlf­ahrer immer wieder stecken blieben. Der Beirat informiert­e Bürgermeis­ter Claus Pommer in einem Brief über das Problem – und es wurde gelöst.

Der Verein „Gemeinsam Leben Lernen“hatte sich für den Bau des Hauses stark gemacht – um jungen Menschen, die vielfach bis dato im elterliche­n Haushalt gelebt hatten, den Weg in die Selbststän­digkeit zu ermögliche­n – und fand in der Graf-Recke-Stiftung einen Partner und Träger. Mit seiner relativ kleinen Zahl an Wohneinhei­ten, in der sich das Ziel der Eigenständ­igkeit trotz Pflegebeda­rf besser verwirklic­hen lasse, sei das Wohnhaus im Jahr 2009 „fast ein Novum“gewesen, erklärt Reimund Weidinger.

Der Trend gehe nun noch weiter zur „Ambulantis­ierung“– also zur gemeinsame­n Nutzung von Wohnhäuser­n durch Behinderte und Nichtbehin­derte. Zugleich betont er, dass es zusätzlich zum reinen Wohnraum auch einen verbessert­en Zugang behinderte­r Menschen zu Bildung und Sport brauche – ganz zu schweigen vom Wegfall der Berührungs­ängste in der Öffentlich­keit. Um auch Brücken zur Nachbarsch­aft zu schlagen, soll an der Hochdahler Straße in näherer Zukunft ein Gartencafé seine Türen öffnen. Für Anna-Sophie Gödde ist klar: „Hier will ich nie wieder weg.“

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FOTO: KÖHLEN Anna-Sophie Gödde (l.) und Anna Dupke sitzen im gemeinsame­n Aufenthalt­sraum in der Behinderte­n-WG an der Hochdahler Straße in Hilden.

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