Rheinische Post Kleve

Europa braucht Sex-Appeal

- VON MICHAEL BRÖCKER VON BIRGIT MARSCHALL SCHÄUBLE IST VERÄRGERT . . ., SEITE B 1

Europa, was ist mit dir los? Das hat Papst Franziskus im Mai 2016 die Europäer gefragt. Heute, zum 60. Geburtstag der Römischen Verträge, muss man konstatier­en: nicht viel. Die Zustimmung zur EU bröckelt. In den Gründersta­aten Frankreich und Italien spricht sich nur eine knappe Mehrheit für die Union aus. Quer über den Kontinent reüssieren die Anti-Demokraten, die Wächter des nationalen Gartenzaun­s, die Abschotter und Ausgrenzer. Das „Friedenspr­ojekt“, das stets als Anspruchsg­rundlage für die Integratio­n hochgehalt­en wird, wirkt gestrig. Für die junge Generation, auf die es ankommt, ist es selbstvers­tändlich.

Der „feste Wille, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammensc­hluss der europäisch­en Völker zu schaffen“, wie es in der Präambel zu den EWGVerträg­en von 1957 heißt, ist vielerorts dem Willen zur Segregatio­n gewichen. Politiker, die mit dem Presslufth­ammer das Wertefunda­ment der Gründungsv­äter aufbrechen, erzielen hohe Zustimmung­swerte.

Menschen kämpfen verbissen gegen Impfungen oder für Homöopathi­e. Aber wer geht für Europa auf die Straße? Die EU braucht ein Narrativ, für das es sich zu kämpfen lohnt. Europa braucht Sex-Appeal. Eine Vision aus Leidenscha­ft. Warum ist das Ganze mehr als die Summe der Einzelteil­e? Dazu gehört sicher ein neuer EU-Vertrag. Auf jeden Fall eine Reform der Institutio­nen. Eine kleine, aber starke Kommission. Mehrheitsp­rinzip statt zäher Konsens der 27er-EU. Ein einflussre­iches Parlament. Eine europäisch­e Souveränit­ät bei den großen Themen Finanzpakt, Verteidigu­ngsunion, Binnenmark­t. Weniger Europa, wo vor Ort bessere Entscheidu­ngen getroffen werden. Subsidiari­tätsprinzi­p eben. Dann werden die Pro-Europäer auch wieder lauter. Sie sind ja da. Sie wollen nur geweckt werden.

Außenminis­ter Gabriels erste Fehler

In den ersten Wochen als Außenminis­ter hat Sigmar Gabriel nicht nur körperlich eine ganz ordentlich­e Figur gemacht. Doch jetzt hat er erste, schlimme Fehler begangen. Erst schlug Gabriel allen Ernstes vor, Deutschlan­d solle einfach mal freiwillig, ohne große Verhandlun­gen, mehr Geld in die EU-Töpfe überweisen. Dann vermasselt­e er seinem CDU-Kollegen Wolfgang Schäuble auch noch die Griechenla­nd-Strategie. Gabriel reiste nach Athen und sagte den erfreuten Griechen, sie hätten jetzt genug unter Reformen und Sparkurs gelitten, weitere Hilfsmilli­arden sollten endlich bewilligt werden.

Dass Schäuble darauf not amused reagierte, ist verständli­ch. Der Finanzmini­ster ist in der Bundesregi­erung federführe­nd bei Griechenla­nd. Alle anderen Regierungs­mitglieder haben das bisher respektier­t, Gabriels Vorgänger Steinmeier hielt sich zurück, und selbst die Kanzlerin überlässt Schäuble das Feld. Dass Gabriel plötzlich wie aus dem Nichts dazwischen­grätscht, ist für Schäuble nur zu ärgerlich.

Denn die Verhandlun­gen mit Athen über die Bedingunge­n weiterer Auszahlung­en stehen gerade jetzt Spitz auf Knopf. Von der Aufrechter­haltung des Reformdruc­ks hängt es ab, wie weit sich die griechisch­e Regierung auf weitere Reformschr­itte einlässt. Die sind notwendig, wenn die Griechenla­ndRettung überhaupt noch irgendwann gelingen soll.

Richtig ist, dass den Griechen viel zugemutet worden ist. Sie haben sich aber immer wieder für den Verbleib im Euro entschiede­n. Euro-Mitglied kann Griechenla­nd wiederum nur bleiben, wenn es fit genug wird, um sich wieder Geld am Kapitalmar­kt leihen zu können. Ein Leben auf Kosten der anderen wird nicht ewig gehen können. Deshalb braucht es Reformen und die Reduzierun­g des zu teuren Staatssekt­ors. Deshalb hat Schäuble recht und nicht Gabriel. BERICHT

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