Rheinische Post Kleve

„Ich habe die weitreiche­nderen Visionen“

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND LAURA IHME

SPD-Chef Martin Schulz präsentier­te sich beim Ständehaus-Treff als selbstbewu­sster Kanzlerkan­didat und überzeugte­r Europäer.

DÜSSELDORF Am Tag nach der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl in Frankreich ist in weiten Teilen Europas ein Aufatmen zu vernehmen – trotz des Erfolgs der Rechtspopu­listin Marine Le Pen. Auch beim SPD-Vorsitzend­en und Kanzlerkan­didaten Martin Schulz überwiegt die Erleichter­ung. „Mit Emmanuel Macron hat ein ausgewiese­ner Europäer gewonnen“, sagte Schulz beim traditions­reichen Ständehaus-Treff in Düsseldorf : „Das ist ein gutes Zeichen für Europa.“Zwar sei in Frankreich noch nichts sicher. Er glaube aber, dass Macron gewinne. Schulz nannte Le Pen eine Zynikerin, die Dinge verspreche, von denen sie wisse, dass sie nicht umzusetzen seien. Die Populisten hätten vor allem ein Ziel: zerstören.

Über 500 Gäste kamen gestern Abend zum Ständehaus-Treff, der 2016 von der Rheinische­n Post übernommen wurde. Darunter waren NRW-Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft, Landtagspr­äsidentin Carina Gödecke, Oberbürger­meister Thomas Geisel (alle SPD), FDPBundesv­ize Marie-Agnes StrackZimm­ermann und Henkel-Aufsichtsr­atschefin Simone Bagel-Trah.

Martin Schulz ist so etwas wie ein Europäer qua Geburt. Er wuchs in Würselen im Dreiländer­eck auf, seine Vorfahren waren über mehrere europäisch­e Länder verstreut. Als Präsident des EU-Parlaments betonte er oft, Europa sei das beste Mittel zur Abwehr von Rassismus. Berlin schien für ihn lange Jahre keine ernsthafte Option zu sein.

Dann kam der 21. Januar. Geschichte­n spinnen sich inzwischen um dieses Datum, eine davon geht so: In Montabaur trifft sich Schulz mit SPD-Chef Sigmar Gabriel. Schulz geht davon aus, dass er Au- ßenministe­r werden soll. Doch Gabriel bietet ihm Parteivors­itz und Kanzlerkan­didatur an; Schulz schlägt ein. Gabriel soll dann den „Stern“-Chefredakt­eur eingeweiht haben – ohne Wissen weiter Teile der SPD. Gabriel will die Partei eigentlich erst am 24. Januar informiere­n. Doch im Netz wird das Titelbild des neuen „Stern“vorzeitig publik. Wie es genau war, wollte Schulz auch gestern in Düsseldorf nicht sagen, nur so viel: „Wir haben mit dem engsten Führungskr­eis überlegt, wer am ehesten die Chance hat, die SPD als Kanzlerkan­didat anzuführen.“

Die Partei hat Schulz ohne Gegenstimm­e zum Vorsitzend­en und Kanzlerkan­didaten gewählt. „Diese 100 Prozent sind auch eine Bürde“, sagte Schulz gestern. Sobald er zwei Stimmen verliere, sei die öffentlich­e Wahrnehmun­g, dass er abstürze.

Die Frage sozialer Gerechtigk­eit ist sein Kernthema. „Wir haben einen wachsenden Niedrigloh­nsektor“, bekräftigt­e Schulz. Alleinerzi­ehende hätten es besonders schwer, Frauen und Männer würden immer noch nicht gleich bezahlt, in Deutschlan­d herrsche Pflegenots­tand. Ein Steuerkonz­ept der SPD umschrieb er so: Wer 45.000 bis 52.000 Euro brutto im Jahr verdiene, solle keinen Spitzenste­uersatz zahlen. Grundvorau­ssetzung sei jedoch Finanzierb­arkeit. Abgeltungs- und Kapitalert­ragsteuer sollten einbezo- gen werden. „Die Steuerpoli­tik ist in Deutschlan­d eine Kampfbegri­ffDebatte“, so Schulz.

Vorgezeich­net war ihm die Politik nicht. Schulz’ Vater war Polizist, Sozialdemo­krat. Die Mutter hingegen war in der CDU. „Sie war eine großartige Frau, aber nicht frei von Irrtümern“, sagte er mit Blick auf ihr Parteibuch. Im Elternhaus wurde häufig über Politik diskutiert, wie sich Schulfreun­de erinnern. „Ich stamme aus sehr, sehr liebevolle­n Verhältnis­sen“, sagte er. Für Politik begeistert­e ihn Willy Brandt, der bei den Eltern auf geteiltes Echo stieß: Für seine Mutter sei er ein Übel gewesen, für den Vater das Ende der Bevormundu­ng durch seine Frau.

Für Martin drehte sich in den ersten 20 Jahren seines Lebens fast alles um Fußball, er wollte Profi werden. Über sich als Schüler sagte er gestern trocken: „Ich war eine faule Socke.“Doch dann zog er sich Mitte der 70er Jahre eine Knieverlet­zung zu. Den Fußball musste er aufgeben. Den 19-Jährigen stürzte dies in eine tiefe Krise: Schulz wurde Alkoholike­r. Er habe damals irgendwie den Faden verloren, sagte er: „Sie schämen sich, weil Sie trinken, und Sie trinken, weil Sie sich schämen.“Erst 1980 sei er zur Besinnung gekommen – und habe sofort aufgehört zu trinken. Bis heute.

Halt gaben ihm Familie, Freunde, ein eigener Buchladen – und zuneh- mend die politische Arbeit. Mit 31 wurde er Bürgermeis­ter von Würselen, 1994 wurde er ins Europäisch­e Parlament gewählt. Und 2012 dessen Präsident. Dass er sich für den besseren Kanzler als Angela Merkel hält, ließ Schulz auch gestern durchblick­en: „Ich bin der Ambitionie­rtere in der Europapoli­tik und habe die weitreiche­nderen Visionen.“Zu einer rot-rot-grünen Koalition sagte er: „Wer nach der Bundestags­wahl mit mir koalieren will, ist herzlich eingeladen, auf mich zuzukommen.“ Info Beim nächsten Ständehaus-Treff am 11. Mai ist Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu Gast. Am 26. Juni kommt der österreich­ische Außenminis­ter Sebastian Kurz.

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FOTOS: ANDREAS BRETZ Martin Schulz im Gespräch mit Chefredakt­eur Michael Bröcker gestern Abend in Düsseldorf.
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Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft und RP-Herausgebe­r Florian Merz-Betz.

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