Dies ist kein Radrennen
In Frankreich ist die Tour ein unvergleichliches Ereignis. Es hat wenig mit Sport zu tun, aber sehr viel mit Identität.
DÜSSELDORF Frankreich ist ein Land der Rituale, und deswegen würde kaum ein Franzose auf den Gedanken verfallen, bei der Tour de France ginge es vor allem um Sport. Die Tour ist viel mehr. Sie ist ein Symbol, ein Mythos und vor allem etwas UrFranzösisches. Und sei es nur, weil das größte Radrennen der Welt das Vorspiel zu den großen Sommerferien bildet, die in Frankreich bis heute eine ganz andere Zäsur darstellen als in Deutschland. Für viele Franzosen signalisieren die surrenden Radkränze, die Küsse der gelb gekleideten Hostessen auf die Wangen des Etappensiegers und die sich vor Aufregung überschlagenden Reporterstimmen im Radio eine unverzichtbare Etappe im Jahresverlauf, mindestens so bedeutsam wie Weihnachten oder Neujahr.
Mit Sportbegeisterung hat das, wie gesagt, nur sehr bedingt zu tun. In den 60er Jahren bezeichneten sich noch 70 Prozent der Franzosen als glühende Fans des Tour-Spektakels, heute interessiert sich dagegen nur noch knapp die Hälfte für das dreiwöchige Gestrampel – was nebenbei immer noch viel mehr ist als beim Fußball, für den nur jeder Dritte in Frankreich eine echte Passion hat. Aber selbst jene Franzosen, die die mediale Dauerberieselung schrecklich nervt, wären wohl völlig verloren, wenn im Juli plötzlich mal keine Tour de France stattfände. Zumal das Ereignis nicht nur der Orientierung im Kalender dient, sondern auch der nationalen Seele.
Die Tour de France stammt aus einer Zeit, als die Einheit der Nation noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit war. Als Bretonen, Okzitanen oder Elsässer noch kräftig fremdelten mit dem aus Paris dominierten Zentralstaat. Da kam die Radrundfahrt, die „Große Schleife“, gerade recht als symbolisches Band, um das Land zusammenzuhalten. Daran hat sich im Grunde wenig geändert. Bis heute feiert sich Frankreich in den drei Tour-Wochen selbst. Es ist ein Akt der Vergewisse- rung, bei dem die harte Wirklichkeit gerne mal ausgeblendet wird. Um wirtschaftlich gebeutelte Regionen, die sich das teure Privileg, einen Etappenort zugeteilt zu bekommen, ohnehin nicht leisten könnten, macht die Tour meist einen großen Bogen. Der Anblick garstiger Industriebrachen bleibt dem Fernsehzuschauer damit erspart. Stattdessen ist bunte Postkarte angesagt.
Die Live-Berichterstattung über das Rennen, die die beiden staatlichen Fernsehsender France 2 und France 3 sowie unzählige Radiokanäle mit ungeheurem Aufwand an Mensch und Material stemmen, öffnet jedes Jahr den Blick auf ein anderes, auf ein besseres Land. Gezeigt wird in sorgsam arrangierten Aufnahmen „la France profonde“, das ländliche, das vermeintlich unverdorbene Frankreich, wo Dorfgemeinschaften zum Nationalfeiertag am 14. Juli noch geschlossen zum Feuerwehrball anrücken, wo die Kneipe im Ort noch „Café du Commerce“heißt und ein Monument vor dem Rathaus an die Gefallenen der beiden Weltkriege erinnert. Die Reporter, die auf vielen Etappen über lange Minuten nicht viel Spannendes zu berichten haben, füttern das Publikum mit historischen Anekdoten über die durchfahrenen Orte, beschreiben die Sehenswürdigkeiten und – besonders wichtig! – die Spezialitäten der lokalen Küche.
Es ist nicht so, dass den meisten Franzosen das Künstliche dieser Inszenierung nicht bewusst wäre. Aber drei Wochen wollen sie gerne im Traum von einer schöneren Wirklichkeit schwelgen. Was im übrigen auch einer der Gründe ist, warum das Thema Doping in Frankreich keinen besonders hohen Erregungsfaktor besitzt. Zum Gesamtkunstwerk der Tour gehört neben dem Helden der Straße, dem strahlenden Sieger, immer auch schon der Betrüger, und je tiefer er vom Podest fällt, desto besser. Jedes Jahr verspricht die Tour-Leitung, diesmal sei das Rennen wirklich sauber, aber 80 Prozent der Franzosen sind fest vom Gegenteil überzeugt. Dass deutsche Fernseh-Sender die TourÜbertragungen wegen eines Doping-Skandals einstellen, gilt in Frankreich als typisch teutonischer Moralismus und als deutlicher Beleg dafür, dass die naiven Deut- schen eben nicht begriffen haben, worum es bei dem Rennen in Wirklichkeit geht.
Die französischste aller Sportveranstaltungen wird längst auch ins Ausland exportiert und begeistert dort ebenfalls ein Massenpublikum. Für die meisten Franzosen ist der „Grand Départ“freilich bestenfalls ein genialer Marketing-Gag. Zu tief verwurzelt ist die Idee, wonach der Rundkurs der Tour einmal durch Frankreich zu führen hat und nirgendwo anders hin. Immerhin, das verschweigen die offiziellen Annalen der Tour: Der allererste Start des Rennens im Ausland fand bereits 1907 statt, und zwar in Metz. Das gehörte damals zum Deutschen Reich. Aber auch das sah man in Frankreich damals etwas anders.