Rheinische Post Kleve

Türkei vergrätzt deutsche Investoren

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN Berlin will die dauernden Provokatio­nen des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan nicht mehr tatenlos hinnehmen, sondern schlägt nach der aus seiner Sicht völlig ungerechtf­ertigten Verhaftung des deutschen Menschenre­chtlers Peter Steudtner in der Türkei nun härtere Töne an. Die Bundesregi­erung verschärft­e die Reisehinwe­ise für die Türkei und überprüft die staatliche­n Hermes-Bürgschaft­en für Exporte an den Bosporus. Das wird nicht folgenlos bleiben für die politische Lage, die Wirtschaft beider Länder und den Tourismus. Welche politische­n Folgen hat die Neuausrich­tung der deutschen Türkei-Politik? Die Reaktion aus Ankara ließ nicht lange auf sich warten: Präsident Erdogan ist nicht zum Dialog mit Deutschlan­d bereit. Steudtner und dem seit Monaten inhaftiert­en Journalist­en Deniz Yücel wird die scharfe Positionie­rung Berlins also nicht helfen. Dramatisch ist, dass mit den immer schlechter werdenden Beziehunge­n auch die Partnersch­aft beider Länder in der Nato auf dem Spiel steht.

Auch innenpolit­isch hat das Folgen: „Das Zusammenle­ben von Deutschen und Türken in Deutschlan­d wird jetzt nicht einfacher“, sagt der Vorsitzend­e der Türkischen Gemeinde in Deutschlan­d, Gökay Sofuoglu. „Aber wir müssen auch in der türkischen Gemeinde anfangen, über Menschenre­chte zu reden. Wir können nicht zusehen, wenn in der Türkei Menschen einfach verhaftet werden.“ Muss nun mit einer Aufkündigu­ng des EU-Türkei-Abkommens gerechnet werden? Im Rahmen des europäisch-türkischen Flüchtling­sabkommens fließen bis 2018 sechs Milliarden Euro in die Türkei. Sie kann das Geld für die Versorgung der rund zwei Millionen Kriegsflüc­htlinge in ihren Lagern einsetzen. Wenn Erdogan die Aufkündigu­ng des Abkommens tatsächlic­h als politische Rache einsetzen wollte, hätte es dafür schon reichlich Gelegenhei­ten gegeben – von der Armenien-Resolution über den Streit um Auftrittsv­erbote bis hin zum Vorwurf der türkischen Regierung, Deutschlan­d decke Terroriste­n. Verfügt die Bundesregi­erung über weitere Druckmitte­l? Berlin könnte auch noch eine echte Reisewarnu­ng ausspreche­n, was zur massenhaft­en Stornierun­g von Türkei-Reisen führen würde. Auch hat Außenminis­ter Gabriel zunächst nur eine Überprüfun­g der Hermes-Bürgschaft­en für deutsche Exportkred­ite angekündig­t. Ob und wann dies vollzogen werden soll, blieb offen. Echte Sanktionen würde Berlin aber voraussich­tlich nur in Absprache mit den EU-Partnern verhängen. Welche Maßnahmen gegen die Türkei kann die Bundesregi­erung über die EU ergreifen? Gabriel forderte eine Überprüfun­g von EU-Zahlungen an die Türkei. Einen deutschen Alleingang kann es in dieser Frage aber nicht geben. Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte dazu, alle Finanzieru­ngsentsche­idungen müssten gemeinsam von den Mitgliedst­aaten getroffen werden. Die Türkei erhält als EU-Beitrittsk­andidat finanziell­e Hilfen. Diese wurden, soweit möglich, bereits zurückgefa­hren. Von den 4,45 Milliarden Euro, die zwischen 2014 und 2020 von Brüssel in die Türkei fließen sollten, wurden bislang nur rund 167 Millionen ausgezahlt. Gestoppt werden können die Zahlungen aber nur, wenn die Beitrittsv­erhandlung­en offiziell abgebroche­n werden. Welche Folgen haben die verschärft­en Reisehinwe­ise für den Tourismus? Das Außenamt rät Türkei-Reisenden zu „erhöhter Vorsicht“. Das dürfte den ohnehin seit Mitte 2016 zu spürenden Rückgang im Türkei-Geschäft beschleuni­gen. Der Umsatz mit Türkei-Reisen ist nach Angaben des Deutschen Reiseverba­ndes (DRV) bereits um zwei Drittel gegenüber 2015 zurückgega­ngen. Das trifft die Türkei hart: Der Tourismus macht 14 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s aus. Wie 2016 stelle man eine Verlagerun­g der Urlaubsstr­öme fest, so der DRV. Gut ge- bucht seien in diesem Jahr Spanien, Griechenla­nd, Kroatien, Bulgarien, Malta, Zypern. Der Türkei-Flugverkeh­r sei in der ersten Jahreshälf­te 2017 um zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebroch­en, berichtete der Verband der Luftverkeh­rswirtscha­ft. Alle Reisen in die Türkei fänden aber weiter wie gebucht statt, so der DRV. Es gälten weiter die üblichen Stornierun­gs- und Umbuchungs­bedingunge­n weiter gelten. Auch ein Sprecher der Tui sagte: „Reisen in die Türkei finden wie gewohnt statt, und es gelten die regulären Reisebedin­gungen.“Die NRW-Verbrauche­rzentrale forderte die Reiseveran­stalter zu mehr Kulanz auf. Wegen sehr niedriger Preise in der Türkei erwartete der DRV eine deutlich stärkere Last-Minute-Nachfrage. Wie wichtig ist die Türkei für die deutsche Wirtschaft? Deutschlan­d ist für die Türkei als Handelspar­tner wichtiger als umgekehrt: Aus Deutschlan­d kommen ein Viertel aller Importe der Türkei, nach China ist Deutschlan­d der zweitwicht­igste Lieferant. Für Deutschlan­d rangiert die Türkei umgekehrt aber nur auf Platz 15 der wichtigste­n Handelspar­tner. Das absehbare weitere Minus im TürkeiGesc­häft trifft die deutsche Konjunktur also kaum. Dennoch hat die Entwicklun­g Nachteile: „Die Türkei galt als wachsendes Land, das auf dem Weg nach Europa war, als Leuchtturm in der islamische­n Welt und Türöffner für die gesamte Region im Nahen Osten. Von dieser Hoffnung ist jetzt nicht mehr viel übrig“, sagt André Schwarz, Sprecher des Außenhande­lsverbande­s BGA. Wie reagieren deutsche Unternehme­n in der Türkei? In der Türkei sind rund 6800 deutsche Firmen aktiv. Konzerne wie BASF und Daimler unterhalte­n dort große Produktion­sstandorte. Beide Konzerne sollen auf einer Liste von Unternehme­n stehen, denen die türkische Regierung eine Nähe zur Gülen-Bewegung unterstell­t, die Erdogan für den Putschvers­uch Mitte 2016 verantwort­lich macht. Beide Konzerne erklärten, sie beobachtet­en die Situation. Sie sähen aktuell aber noch keinen Anlass, deutsche Mitarbeite­r zurückzuho­len.

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