Rheinische Post Kleve

Die Stadt der Toten

- VON CEDRIC REHMAN

Die Schlacht um Mossul ist zu Ende, aber das Sterben geht weiter. Überlebend­e harren zwischen Trümmern und Massengräb­ern aus.

MOSSUL Emad Tamo ist ein Greis im Körper eines Kindes. Seine Stirn ist von Falten durchzogen. Die Wangen sind hohl, die Augen versinken in den Höhlen. Ein Totenkopf mit einem Leib, der nur noch aus Haut und Knochen besteht. Irakische Soldaten schütten Wasser über den Jungen, um den Staub abzuwasche­n. Einer schneidet ihm die von Schmutz verfilzten Haare. „Habibi“, „Liebling“, flüstert der Soldat dem Jesiden ins Ohr. Er lässt jede Strähne wie ein zärtlicher Vater durch seine Finger gleiten. Da stehen die Soldaten um das verhungern­de Kind herum. Sie haben eine der härtesten Schlachten des 21. Jahrhunder­ts überlebt und sehen aus, als würden sie die Welt nicht mehr verstehen.

Doktor Marino Andolina von der deutschen Hilfsorgan­isation Cadus hat an diesem Tag schon zwei andere Kinder in Empfang genommen, die wie der junge Jeside mehr tot als lebendig ankommen. Ein arabischsu­nnitisches Mädchen, acht Jahre alt, und einen zehnjährig­en Kurden. „Sind sie schmutzig und hungern, bedeutet das immer IS“, sagt der italienisc­he Kinderarzt. Er meint, dass die Kinder aus der Altstadt von Mossul kommen.

Aus dem Teil der zerstörten Millionens­tadt ist der IS immer noch nicht vertrieben. Tausende, vielleicht Zehntausen­de Zivilisten haben sich im Schutt Gruben gegraben oder Löcher im Boden, um sich vor dem IS zu verstecken. Die Kämpfer der Terrormili­z haben vor Wochen die Türen der Häuser zugeschwei­ßt, um die Einwohner in den Gebäuden als menschlich­e Schutzschi­lde den Bomben auszuliefe­rn. So sollten die Luftangrif­fe der irakischen Armee und der Anti-IS-Koalition den Kampf gegen den IS in ein Blutbad verwandeln.

Doch die Druckwelle­n der Detonation­en sorgten dafür, dass Wände einstürzte­n und einige der lebendig Eingemauer­ten entkommen konnten. Sie suchten in den Trümmern oder unter der Erde ein Versteck vor den Bomben und den Heckenschü­tzen des IS. Die Mütter und Väter verzichtet­en oft auf das Gras oder die verdorbene­n Lebensmitt­el, die sie nachts sammelten, und das Wasser, das aus lecken Leitungen tropfte. Sie gaben ihren Kindern alles, was ess- oder trinkbar war. Als in der ersten Juliwoche die IS-Kämpfer aus weiten Teilen der Altstadt verschwand­en und die Luftangrif­fe auf die fast besiegte Miliz deutlich abnahmen, krochen die Kinder aus den Verstecken und ließen die Leichen ihrer verdurstet­en und verhungert­en Eltern zurück.

Nachdem die irakischen Soldaten Emad Tamo vom Dreck befreit haben, tragen sie ihn vorsichtig wie eine Kiste voller Glas in eine Garage. Sie dient als Feldlazare­tt. Noch Anfang Juli war die Front von hier nur eineinhalb Kilometer entfernt. Dort legen sie ihn auf eine Liege, damit der Kinderarzt ihn untersuche­n kann. Doktor Andolina schätzt den geschrumpf­ten Leib des Kindes auf sieben Jahre. Der Junge sagt dem Übersetzer mit dünner Stimme, dass er 15 sei. Der italienisc­he Arzt ist nicht erstaunt, dass er so danebengel­egen hat. Kein Licht, keine Nahrung, kaum Flüssigkei­t über Monate, das bringt den menschlich­en Körper in einen Zustand, der nicht mehr durch das biologisch­e Alter bestimmt ist, sagt er. Der Arzt legt eine Infusion, damit der ausgetrock­nete Körper Flüssigkei­t bekommt. Die gute Nachricht sei, dass ein Jeside die vom IS beherrscht­en Gebiete lebend verlassen konnte. Der IS oder Daesch, wie die Iraker die Dschihadis­ten nennen, erklärte die Minderheit zu lebenden Teufeln, rottete sie aus, wo immer er ihrer habhaft werden konnte.

Wie Emad Tamo überhaupt so lange in Mossul überleben konnte, sei eine gute Frage. „Wahrschein­lich hatte er eine schöne Mutter“, sagt der Arzt. Das Auftauchen des jesidische­n Kindes Tage nach der offizielle­n Befreiung der Stadt durch die irakische Armee birgt für den Kinderarzt aber auch eine schlechte Nachricht: Das Leiden der Kinder Mossuls ist noch lange nicht vorbei. Der junge Jeside konnte nur gerettet werden, weil er im Gewirr der Altstadtga­ssen irakischen Soldaten in die Arme gelaufen ist. Denn obwohl die irakische Regierung den Sieg verkündet hat, hält der IS immer noch Teile der Altstadt unter Kontrolle. Wie viele Kinder in den letzten umkämpften Vierteln ohne lebende Verwandte noch in Verstecken hausen oder gerade aus ihren kilometerw­eit von jeder Hilfe entfernt liegenden Gruben kriechen, könne niemand sagen. 2000 bis 3000 Kinder brauchen im Sperrgebie­t dringend Hilfe, um überleben zu können, schätzt der Arzt. „Ich würde sofort gehen, aber die Armee lässt niemanden da rein“, sagt Andolina. Er streichelt dem Jungen über den frisch geschorene­n Kopf, während die Flüssigkei­t aus dem Tropf über eine Kanüle in seinen Arm fließt. Der Junge starrt mit leerem Blick an die Decke.

Das Leben kehrt zurück in die zerstörte Stadt, als wollte es dem Tod ein Schnippche­n schlagen. Wo noch vor wenigen Tagen geschossen und gestorben wurde, öffnen die ersten Läden wieder. In den Auslagen: Wäsche, Schuhe, Toilettenp­apier oder Rasierscha­um, der besonders gefragt ist in der Zeit nach dem IS. Aber das Leben macht in Mossul bescheiden­e Fortschrit­te. Je näher an der immer noch umkämpften Altstadt, desto größer die Stille. Von ei- nem Block zum anderen verschwind­et das Gedränge aus Einheimisc­hen und Vertrieben­en von den Straßen und macht der Menschenle­ere Platz. Es scheint, als wäre ein Tsunami durch diesen Teil Mossuls gerauscht. Er hat alles Lebendige mit sich gerissen, nur Schuttberg­e hinterlass­en. Alles entlang der Straße ist verbogen, verbrannt, zersplitte­rt, geborsten. Ein organische­r Gestank hängt über der Altstadt. Alles verrottet: Müll, verendete Tiere und die Leichen der Menschen, die hier gelebt haben. Bagger versperren in manchen Straßen den Weg. Es heißt, sie würden die Toten von der Straße in die Bombenkrat­er schieben. Dann ein Hub Schutt in das Loch, und das Massengrab ist fertig.

Stefan Jarosch steuert den weißen Jeep der Organisati­on Cadus um die metertiefe­n Krater herum. Fliegerbom­ben der Alliierten haben sie in den Boden gesprengt und die Gebäude darüber pulverisie­rt. Jarosch fällt an jedem Häuserbloc­k eine Geschichte ein. Hier ist der verrückte Mann auf die Soldaten zugelaufen – wohl so ausgetrock­net, dass er seinen Verstand verloren hat. Erschossen, weil die Iraker ihn für einen Selbstmord­attentäter hielten. Und da war das Haus, in dem sich eine Familie vor dem IS versteckt hat. Die Helfer nahmen die Halbverhun­gerten huckepack unter dem Feuer der Heckenschü­tzen.

Jarosch fährt einen neuen Arzt aus Deutschlan­d durch sein altes Revier. Der Berliner Notfallmed­iziner wird nach vier Wochen in Mossul mit seinem Team demnächst aufbrechen, während der Mainzer Arzt Gerhard Trabert für die kommenden zehn Tage das Lazarett in Mossul leitet. Jarosch und seine Helfer bleiben dem IS auf den Fersen. Sie folgen der irakischen Armee in die Stadt Tal Afar westlich von Mossul. Dort beginnt die nächste Operation gegen die Dschihadis­ten.

Der Berliner Arzt steuert die zweite Feldklinik von Cadus in der Altstadt an. Die Deutschen flicken dort mit den Ärzten des irakischen Militärs Zivilisten, Soldaten und ISKämpfer zusammen, bevor die Armee die Verwundete­n in ein ordentlich­es Krankenhau­s bringt. Cadus habe sich in den vergangene­n Wochen überlegt, die Zusammenar­beit mit der irakischen Armee zu beenden, sagt Jarosch. Er erzählt, wie er einen verletzten IS-Kämpfer behandeln wollte, dieser aber von den Soldaten von der Liege geschleppt worden sei. „Sie verschwand­en mit ihm hinter dem Haus. Dann hörte ich zwei Schüsse. Die Soldaten kamen ohne den Mann zurück“, sagt er. Am Ende habe Cadus entschiede­n zu bleiben.

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FOTO: DPA Die Millionens­tadt Mossul ist zerstört: Überall in den Trümmern sind noch Menschen verschütte­t, die notdürftig verarztet werden.
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