Rheinische Post Kleve

Langeweile 77

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

Weißt Du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhei­n, erinnern sich an ihre Jugendjahr­e auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel. Heute: die langweilig­ste Landstraße der Welt.

UEDEM Es war nicht das erste Mal, dass ich mich vor Leuten übergab, aber mehr Zuschauer als an diesem Morgen hatte ich nie. Irgendjema­nd warf mir eine Packung Taschentüc­her zu. Der Schulbusfa­hrer sah mich trotzdem vorwurfsvo­ll an, als er nach der Fahrt anfing, den Fußboden zu wischen. Nicht so viel später beschloss ich, nur noch das Fahrrad zur Schule zu nehmen. Spätestens da wurde die L 77 die wichtigste Straße meiner Jugend.

Die Landstraße 77 ist eine acht Kilometer lange Gerade, die meine Heimat Uedem mit der Stadt Goch verbindet, wo ich aufs Gymnasium ging. Sechs große Straßen führen von Uedem weg, die L77 ist die einzige, die sich nicht mal biegt. Weil sie so gerade ist, glaubte ich lange Zeit, Adolf Hitler habe sie bauen lassen, damit dort im Krieg notfalls Flugzeuge landen können. Dabei ist sie bloß so gerade, weil dort bis in die 60er Jahre eine Bahnstreck­e verlief.

Meine erste Erinnerung an die Straße ist, wie ich mit meinem besten Freund Jan Ende der 80er versuchte, ein paar Pfennige zu erbeuten. Er wohnte am Anfang der L 77, und eines Tages legten wir einen Ast über den Fahrradweg, der durch einen Grünstreif­en von der Straße getrennt war. Den Ast würden wir erst wieder wegziehen, wenn die Radfahrer Wegzoll entrichtet hatten. Ei- nige ließen sich darauf sogar ein, aber ich glaube, sie zahlten mit Kaugummis. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, selbst mit dem Rad nach Goch zu fahren. Acht Kilometer, das war eine andere Welt.

Als ich aufs Gymnasium kam, fuhr ich zweimal täglich im Bus über die Straße. Wir spielten Autoquarte­tt und „Drei gewinnt“auf den beschlagen­en Scheiben, um die Langeweile zu überbrücke­n. Spannend war bloß, ob die armen Gestalten am letzten Zwischenha­lt sich noch in den Bus quetschen konnten.

Mit dem Wechsel aufs Fahrrad in der zehnten Klasse war ich zwar das Gefühl los, jeden Morgen in einer Sardinenbü­chse zu sitzen, aber der Ödnis war ich noch näher. Weide, Wald, Wiese, Feld, das Ziel acht Kilometer lang vor Augen. Sechs Stunden später war die Strecke noch länger. Ich war erschöpft vom Sportunter­richt, es gab kaum Schatten und Schutz vorm Gegenwind sowieso nicht. Der Fahrradweg war ein Witz. Die Straße war lupenrein asphaltier­t, aber der Weg war, vermutlich durch Baumwurzel­n, an vielen Stellen aufgerisse­n. Der Asphalt bildete Hubbel, die ich auch im Rücken spürte. Wich ich ihnen nicht häufig genug aus, plumpste mein Tornister vom Gepäckträg­er. Gegen Ende stieg der Weg an, nur leicht, nur für einen halben Kilometer, aber es reichte, um zu nerven. In dieser halben Stunde auf dem Fahrrad hatte ich viel zu viel Zeit, um nachzudenk­en, wenn ich nicht gerade mit einem Freund fuhr. Und Nachdenken war schon immer etwas, das mich wahnsinnig machte, und wenn es nur darum ging, die Sache mit der Osmose aus dem Bio-Unterricht zu verstehen.

Fast alles, was in meiner Jugend eine Rolle spielte, hatte irgendwie mit der L 77 zu tun. Wenn ich eine Zugreise unternahm, musste ich zum Bahnhof in Goch. Ich fuhr auf dem Radweg zu Partys und nachts wieder zurück, vorbei an im Nebel stehenden Kühen.

Auch zu meinen anderthalb Dates fuhr ich mit dem Rad nach Goch. Einmal klemmte ich eine Rose auf den Gepäckträg­er, es war Frühling, ich schwitzte schon nach zehn Minuten. Das Mädchen nahm meine Rose, aber nicht meine Hand. Eines Morgens bemerkte ich, dass ich Heuschnupf­en hatte. Mein Auge war so zugeschwol­len, dass ich mit Sonnenbril­le in der Klasse sitzen durfte. Diese Straße hörte nicht auf, mein Leben zu erschweren.

Vieles in meiner Jugend betrachte ich mit einem verklärten Blick – sogar die Verwandten­besuche am Sonntag – nicht aber diese Straße. Doch auch wenn die Fahrten nicht schön waren, wichtig waren sie. Weil mir die L 77 jeden Morgen und jeden Mittag zeigte, was Langeweile bedeuten kann, und vor allem, was Langeweile am Niederrhei­n bedeuten kann: eine schnurgera­de Routine, bei denen sich bloß mal Wald und Wiese abwechseln. Der Niederrhei­n ist in den besten Momenten eine Idylle, in den schlimmste­n niederschm­etternd vorhersehb­ar. Die Straße zeigte mir jeden Tag im Kleinen, welches Leben mich später im Großen ereilen konnte. „Tu was“, flüsterte sie mir zu, „sonst wird’s nicht besser.“

So überwand ich jeden Morgen die Straße und die Langeweile, weil am Ende die Schule wartete, die mir hoffentlic­h dabei half, einen größeren Teil der Welt zu erschließe­n. Mit der Zeit wurde mir klarer, dass ich noch etwas anderes sehen wollte. Nicht weil ich mich für etwas Besseres hielt, sondern weil es für mich besser war. Als ich zum Studieren in eine große Stadt zog, fuhren mich meine Eltern nach jedem Heimatbesu­ch zum Bahnhof nach Goch. Über die L 77. Die Straße hatte mich in die Welt geführt, indem sie es mir so schwer wie möglich machte.

Wozu die Langeweile führen konnte, erfuhr ich spätestens an dem Tag, als das Auto, in dem ich saß, in den Graben geriet. Die L 77 müsste eigentlich die unfallärms­te Straße der Welt sein, weil sie an keiner Stelle gefährlich ist. Gerade deshalb passen einige Autofahrer nicht so auf, rasen, achten nicht mehr auf die Straße. Mehrere Menschen sind auf dieser Straße umgekommen. Eines Tages waren wir mit der Jugendgrup­pe unterwegs, ich muss 13 oder 14 gewesen sein. Die Frau, die den Bulli fuhr, hatte gerade ihren Führersche­in gemacht. Aus einem Grund, der nur mangelnde Konzentrat­ion sein konnte, geriet der Wagen ins Schlingern, schoss quer über die Straße und den Fahrradweg und war schließlic­h kurz davor, im Graben umzukippen. Dann brachte die Frau den Wagen zum Stehen, wir stiegen unverletzt aus. Nie war ich so froh gewesen.

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RP-FOTO: SEBASTIAN DALKOWSKI Bitte fahren sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen.
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