Rheinische Post Kleve

Hart, herzlich, Kamp-Lintfort

- VON MARKUS PLÜM

Weißt Du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhei­n, erinnern sich an ihre Jugendjahr­e auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

KAMP-LINTFORT Ich glaube, ich war 15 Jahre alt, als ich meine erste eigene Gitarre bekam. Klassisch, zum Zupfen, keines dieser knarzenden elektrisch­en Exemplare. Wenige Monate zuvor wechselte an der Musikschul­e Kamp-Lintfort mein Gitarren-Lehrer. Rupert hieß er – ein junger Mann mit zerzaustem Haar, ein wenig zu viel auf den Rippen und langen Fingernäge­ln an der rechten Hand. Letztere waren quasi seine körpereige­nen Arbeitsmat­erialien, schließlic­h sollten die gezupften Saiten auch gut klingen.

Rupert hatte beschlosse­n, dass mein Kumpel Björn und ich etwas mehr aus unserem musikalisc­hen Talent machen sollten. Da lagen bereits mehrere Jahre Gitarren-Unterricht hinter uns, aber Rupert wollte uns in neue Dimensione­n vorstoßen lassen: Voller Angriff, „Jugend musiziert“, Landeszupf­orchester, ein Leben für die Musik. Doch die abgegriffe­nen Instrument­e, die wir von unseren Vätern übernommen hatten, reichten dafür nicht aus. Also überredete er unsere Eltern, uns neue Gitarren anzuschaff­en und beschwor uns, dass wir nun ebenfalls lange Fingernäge­l bräuchten.

Und genau das war mein Dilemma. Aufgrund des 1600 Euro teuren Gitarren-Kaufs machten meine Eltern Druck, dass ich das jetzt auch durchziehe­n müsse. Wir haben dir das Ding jetzt doch nicht gekauft, damit es nur noch in der Ecke steht, durfte ich mir beinahe wöchentlic­h anhören.

Aber mit langen Fingernäge­ln ließ es sich nun mal schlecht Basketball spielen. Seit meinem sechsten Lebensjahr jage ich für die BG Lintfort dem orangenen Ball hinterher, mit 14 Jahren wurde es für mich zum ersten Mal richtig ernst. Jugend-Regionalli­ga, eine überdurchs­chnittlich talentiert­e Truppe, ein Aushängesc­hild für die Stadt. Bis dahin hatten die Mannschaft­en meines Vereins eher in der Kreisliga für Furore gesorgt. Aber wir konnten und wollten mehr. Also trainierte­n wir. Und trainierte­n. Bis zum Erbrechen – wortwörtli­ch. Dreimal die Woche zwei Stunden, im Sommer, im Winter, in den Ferien. Am Wochenende standen die Spiele an, die Auswärtsfa­hrten führten uns in bislang unbekannte NRW-Gefilde: Breyell, Bre- ckerfeld, Bensberg. Nie gehört. Aber unseren Gegnern ging es beim Namen Kamp-Lintfort wahrschein­lich ähnlich.

Die Bergbau-Stadt mit knapp 40.000 Einwohnern – geografisc­h linker Niederrhei­n, kulturell tiefstes Ruhrgebiet – hat mich nie losgelasse­n. In den frühen 2000er-Jahren hatte die Stadt den Charme eines schimmelig­en Käsebrots, der Umgang miteinande­r war hart, aber herzlich. Aber ich hatte hier alles, was ich brauchte. Schule, Freunde, Sport. Als Jugendlich­er brauchte man erst einmal nicht mehr. Unter der Woche trafen wir uns in der Jugendgrup­pe der Kirchengem­einde oder auf dem Bolzplatz – wenn denn mal kein Basketball-Training oder Gitarren-Unterricht anstand. Und wir bauten Baumhäuser für die Ewigkeit. Im wahrsten Sinne, denn wir buddelten für die tragenden Stützen tiefe Löcher und gossen Betonfunda­mente. Beim „Richtfest“rauchte ich meine erste Zigarette. Ein Kumpel hatte sie aufgetrieb­en, Marlboro Menthol. Wird schon keiner riechen, schließlic­h hatte mein Vater damals selbst geraucht. Und ist ja Menthol. Was fühlte ich mich cool. Und was war ich naiv. Als ich zu Hause ankam, dauerte es keine zehn Sekunden, bis meine Mutter an mir herumschnü­ffelte. Es folgte der Anschiss meines Lebens – Hausarrest.

Und dann gab es da noch die Tanzschule Wille. Disko Fox, Cha Cha, Rumba. Eins, zwei, tap. Erst der Grundkurs, dann immer mehr. Mittelpart­ys, Abschlussb­älle, Sondervera­nstaltunge­n. Hier kam ich zum ersten Mal mit Bier und Alkopops in Berührung – auf der Herrentoil­ette. Und hier lernte ich auch meine erste feste Freundin kennen, für die ich Kamp-Lintfort an mehreren Abenden die Woche gerne hinter mir ließ. Mit meinem auf 30 km/h gedrosselt­en Roller tuckerte ich die B510 entlang nach Alpsray, 20 Minuten für zehn Kilometer bei Wind und Wetter. Was tut man nicht alles für die Liebe. Ab und zu fuhr ich die Strecke auch mit dem Fahrrad. Ich musste schließlic­h fit bleiben. Denn mit un- serer Basketball-Mannschaft hatten wir inzwischen den Sprung in die NRW-Liga, damals die höchste Jugendliga des Landes, geschafft. Jetzt mussten wir nicht mehr nach Breyell, Breckerfel­d und Bensberg. Jetzt hießen die Gegner Bayer Leverkusen, Telekom Bonn, RheinEnerg­ie Köln und Paderborn Baskets. Dort nahm man uns noch viel weniger ernst, aber wir genossen das.

Und wir mischten die Liga auf. Unvergesse­n der Tag, wie wir am ersten Spieltag in der neuen Liga den Bonner Bundesliga-Nachwuchs, eine mit Auswahlspi­elern gespickte Truppe, in unserer altehrwürd­igen Glückauf-Halle empfingen. Monatelang hatten wir auf diesen Moment hin gefiebert, ich tapezierte meine Schule förmlich mit Plakaten und Flyern. 600 Zuschauer kamen zum Spiel – und wir schlu- gen das große Bonn dank Kevins entscheide­ndem Treffer eine Sekunde vor Ende des Spiels. Es sollte das Highlight meiner sportliche­n Karriere bleiben.

Obwohl: Im Laufe der Saison durfte ich noch gegen einen gewissen Tim Ohlbrecht antreten, damals in Diensten von Bayer Leverkusen, 14 Jahre alt und damit zwei Jahre jünger als ich. Knapp zehn Jahre später, im Jahr 2013, lief Ohlbrecht schließlic­h in der NBA für die Houston Rockets auf – so viel zu meinen Künsten am Ball.

Erst als es für mich aufs Abitur zuging, rückte der Sport ein wenig in den Hintergrun­d. Ich entdeckte die Möglichkei­ten außerhalb KampLintfo­rts. Donnerstag­s fuhren wir regelmäßig nach Oberhausen in den „T-Club“, Freistunde­n am Freitagmor­gen sei Dank. Trotzdem zog der ein oder andere Schultag dann doch irgendwie ziemlich schwammig an einem vorüber.

Doch das war nicht so wichtig, schließlic­h machten wir Freitagsab­ends dann das „pm“in Moers unsicher. Jede Woche enterten wir die Hip-Hop-Halle. Es war die Hochzeit des Clubs in der alten Schachtanl­age IV der Zeche Rheinpreus­sen. Tausende Gäste, volle Tanzfläche­n. Die daraus resultiere­nde perverse Mischung aus zu viel Parfüm, altem Schweiß und Whiskey-Cola liegt mir heute noch in der Nase.

Schließlic­h kam das Abitur, der Zivildiens­t im Krankenhau­s und das Studium. Dafür verließ ich meine Heimatstad­t erstmals. Zwar nur bis nach Duisburg und Münster, aber immerhin auf die andere Rheinseite.

Und jetzt? Jetzt ist eigentlich fast alles wieder wie früher. Ich lebe in Kamp-Lintfort und verbringe den überwiegen­den Teil meiner Wochenende­n in nordrhein-westfälisc­hen Sporthalle­n. Das Baumhaus mussten wir aber irgendwann wieder abreißen.

Und die Gitarre habe ich seit meinem Abitur nicht mehr angefasst. Eigentlich müsste ich sie mal wieder entstauben und ein wenig auf ihr herumzupfe­n – das dürfte auch ohne lange Fingernäge­l funktionie­ren.

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RP-FOTO: REICHWEIN Blick auf die ehemalige Zeche: Unser Autor Markus Plüm verbrachte seine Jugend in der Bergarbeit­erstadt.
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Autor Markus Plüm als 14-Jähriger und heute.
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