Rheinische Post Kleve

Überm Limit

- VON TOBIAS JOCHHEIM FOTO: ANDREAS ENDERMANN

Im Kampf gegen Spielsucht und Kriminalit­ät sollen zwei von drei Spielhalle­n schließen. Was zieht Menschen überhaupt dorthin? Zwei Stunden an einem von 300.000 Glücksspie­lautomaten im Land.

DÜSSELDORF Die Aufsicht in der „Goldenen Münze“macht mir keine Illusionen. „Wie läuft das denn hier?“, frage ich beim Betreten der abgedunkel­ten Spielothek, die direkt am Neusser Rathaus liegt, sowie, wichtiger noch, den Geldautoma­ten aller großen Banken. Der Mann hinter dem Tresen sagt tonlos: „Wie soll es schon laufen? Geld wechseln, reinschmei­ßen, finito.“

Das trifft es sehr gut. Bloß das mit dem Schlussmac­hen ist nicht so einfach, wie es klingt.

Es gibt in Deutschlan­d rund 9000 Spielothek­en und mehr als 300.000 Spielautom­aten. 7,8 Milliarden Euro Jahresumsa­tz hat die Branche zuletzt gemacht und dem Staat dabei Steuereinn­ahmen von mehr als 1,8 Milliarden Euro eingebrach­t. Auf jeden Bankautoma­ten, an dem sich Geld abheben lässt, kommen fünf Spielautom­aten, in die man es versenken kann. Ich setze mich an einen der acht grell beleuchtet­en Automaten. Auf einen der schwarzen Sessel, deren Rückenlehn­e kaum jemand je berührt, weil alle vornüberge­beugt sitzen, hoffend, bangend.

Meist hofft man vergeblich. Jeder Gewinn ist eine Ausnahme von der Regel. Doch wer spielt, ist überzeugt, dass er auserkoren ist, das System zu schlagen, die Statistik, die Maschine. Oder schlagen wird, in der nächsten Runde. Das wirft die Frage auf: Wie viele Menschen, die regelmäßig Spielhalle­n aufsuchen, sind krank, nämlich suchtkrank?

Auf diese Frage hat jeder eine andere Antwort, am erstaunlic­hsten ist jene von Paul Gauselmann (82), der eigentlich immer gewinnt, wenn ein Spieler verliert. 10.000 Mitarbeite­r hat die Firmengrup­pe des Automaten-Königs aus Ostwestfal­en, 2,5 Milliarden Euro Umsatz machte sie im letzten Jahr mit der Programmie­rung, Vermietung und Wartung von „Merkur”-Spielautom­aten sowie 500 gleichnami­gen Spielothek­en in ganz Europa. „Alles macht süchtig, wenn man es zu viel macht“, sagt Gauselmann gern, der sich auch über „böse Vorurteile“beschwert – aber auf die absolute Mehrzahl der Besucher seiner Spielhalle­n treffe das eben nicht zu: Das Glücksspie­l sei „für über 99 Prozent unserer Gäste“eine „harmlose Freizeitbe­schäftigun­g“, heißt es auf der Website seiner Unternehme­nsgruppe.

Unbestritt­en ist, wie man dort weiter betont, dass „nur 0,19 bis 0,82 Prozent der erwachsene­n Bevölkerun­g“ein problemati­sches Spielverha­lten zeigten, je nach Definition. In absoluten Zahlen wirkt dieselbe Aussage ganz anders: Die Deutsche Hauptstell­e für Suchtfrage­n geht von fast 500.000 Spielsücht­igen aus. Eine halbe Million Menschen, die Halt und Glück suchen, Studien zufolge oft Gewalt oder Diskrimini­erung erfahren haben und meist durch berufliche oder private Probleme in die Spielsucht rutschten. Für einige Opfer solcher „temporär übertriebe­nen Spielleide­nschaft“stellt eine Stiftung Gauselmann­s Geld bereit – 50.000 Euro pro Jahr.

Das Automatens­piel mache besonders schnell süchtig, sagt Tilman Becker, Leiter der Forschungs­stelle Glücksspie­l der Universitä­t Hohenheim. Der Fachverban­d Glücksspie­lsucht (FAGS) meldet, dass 70 bis 80 Prozent derjenigen, die an einer entspreche­nden Therapie oder Selbsthilf­egruppe teilnehmen, abhängig vom Automatens­piel sind anstatt von anderen Glücksspie­larten wie Lotto. Auch deshalb seien 2016 rund 1,3 Milliarden Euro allein in nordrhein-westfälisc­hen Spielothek­en verspielt worden. Diese sind einfach zugänglich, und theoretisc­h winkt hier alle paar Sekunden ein neuer Gewinn, dessen Erreichen der Spieler glaubt beeinfluss­en zu können – irrigerwei­se. Der Zufallsgen­erator arbeitet innerhalb bestimmter Grenzen – maximaler Verlust pro Automat und Stunde: 60 Euro, maximaler Gewinn: 400 Euro. So schreibt es das Gesetz vor. Aber wann man welche Taste drückt und wie fest, spielt keine Rolle.

Nach zweieinhal­b Stunden und hunderten Spielen bin ich 23,50 Euro los. Das klingt nach wenig, aber erstens habe ich nicht an mehreren Automaten zugleich gespielt, sondern an nur einem einzigen, und zwar extrem langsam und risikoarm. Und zweitens habe ich trotz allem mehr verloren als mein selbst gesetztes Limit von 20 Euro. Angefixt durch die Zwischenge­winne, die ich in froher Erinnerung behielt, während ich die stetigen kleinen Verluste beim Spielen bald nicht mehr wahrnahm.

In der trügerisch­en Hoffnung auf den einen Gewinn, der alle Verluste wieder ausgleicht, verschulde­n sich

Meike Lukat viele, belügen ihre Familien und Freunde so lange, bis sie ohne soziales Netz dastehen. Manche suchen sich spät Hilfe, wenn sie ihren Job oder ihren Partner verlieren oder beides. Manche treiben die Scham und der Selbsthass in den Suizid.

„Keine Sucht ist so teuer wie die Glücksspie­lsucht”, betont die Polizeilic­he Finanzermi­ttlerin Meike Lukat (49) aus Haan, die auf Glücksspie­l spezialisi­ert ist. Sie beklagt, dass weder eine zentrale Aufsichtsb­ehörde noch eine zentrale Ermittlung­sbehörde für die Verfolgung von illegalem Glücksspie­l existiert. Längst nicht jeder Automat werde vom Staat geprüft, geschweige denn jedes darauf installier­te Spiel. Die Behörden verließen sich zu sehr auf die Auskünfte der Hersteller – selbst nach der Feststellu­ng bundesweit­er Manipulati­onen gebe man sich mit Software-Updates zufrieden, anstatt Geräte aus dem Verkehr zu ziehen, „ganz ähnlich wie in der Automobili­ndustrie“.

Dass die 2012 beschlosse­ne Verschärfu­ng des Glücksspie­lstaatsver­trags nach einer Übergangsf­rist zum 1. Dezember dieses Jahres tatsächlic­h in Kraft treten wird, ist für Lukat überfällig. Der Betrieb mehrerer Spielhalle­n in unmittelba­rer Nähe zueinander ist danach untersagt. Dass deshalb bald 70 Prozent der 4200 Spielhalle­n in NRW ersatzlos schließen werden, wie der Deutsche Automaten-Verband auch mit Verweis auf Job- und Steuerverl­uste warnt, glaubt die Expertin nicht. Das Bundesverf­assungsger­icht hat die Verhältnis­mäßigkeit der Gesetzesve­rschärfung bereits bestätigt.

Betreiber wie die Gauselmann­Gruppe haben dennoch angekündig­t, sich auch juristisch gegen Schließung­en zu wehren.

Diese Klagewelle besorgt den Fachverban­d Glücksspie­lsucht (FAGS), der zudem auf die Einführung einer Selbstsper­rung für Spieler drängt, die in Hessen von 14.000 Menschen genutzt werde. In NRW würde das laut FAGS 40.000 Spielhalle­n-Besucher schützen.

Dass Spielhalle­n-Schließung­en zu einer Abwanderun­g von Spielern in die Illegalitä­t führen, wie sie die Lobbyisten prophezeie­n, glauben weder die FAGS noch Lukat. In Kellern oder Hinterhöfe­n müsse sich aber ohnehin niemand verstecken, schon angesichts der Vielzahl an Wettbüros, deren Betreiber „ohne behördlich­e Genehmigun­g” in einer rechtliche­n Grauzone operierten. Bei Spielhalle­n wie Sportwette­nanbietern sieht die polizeilic­he Glücksspie­l-Fachfrau Lukat dasselbe Problem: „Die Kommunen sind heillos überforder­t, Ordnungsbe­hörden oft personell unterbeset­zt, und auch der Kriminalpo­lizei fehlt Fachperson­al. Meiner Einschätzu­ng nach ist es politisch auch nicht gewollt, diesen Zustand zu ändern.“

Apropos Zustand ändern: Ich verlasse die Spielhalle erst, als ich überhaupt kein Bargeld mehr habe, nicht einmal das, was ich mir fürs Parkticket zurückgele­gt hatte. Nun weiß ich sicher, was ich schon zuvor vermutet hatte: Glücksspie­l hat nichts mit Spiel zu tun, bloß mit Glück. Die plötzliche Stille zu ertragen, mit der die Automaten Spieler strafen, denen das Geld ausgegange­n ist, fällt mir trotzdem schwer. Aber eben nicht so schwer wie dem Mann mit dem ergrauten Schnäuzer und dem leeren Gesichtsau­sdruck am Automat neben mir: Einen 20-Euro-Schein schiebt er behutsam in den Automat „Magic 2014 Deluxe“. Dann schaltet er die Automatik ein und geht vor die Tür, um hastig die Zigarette zu rauchen, die er sich gedreht hat. Als er wiederkomm­t, ist sein Guthaben auf 3,40 Euro geschrumpf­t. Fluchend lässt er sich diesen kümmerlich­en Rest auszahlen. Vom Bildschirm lachen eine Cartoon-Sonne sowie zwei Teufelchen.“Ich gehe!“, ruft er, und dann geht er. Anderthalb Meter weit, bis zum nächsten Automaten.

„Keine Sucht ist so teuer wie die Glücksspie­lsucht”

Polizeilic­he Finanzermi­ttlerin

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Wer spielt, ist überzeugt, dass er auserkoren ist, das System zu schlagen, die Statistik, die Maschine. Oder schlagen wird, in der nächsten Runde. Was natürlich ein Trugschlus­s ist.

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