Rheinische Post Kleve

Marxloh bleibt Marxloh

- VON HILDEGARD CHUDOBBA UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Vor zwei Jahren war Angela Merkel zu Besuch in Duisburg-Marxloh. Eine Anwohnerin hatte ihr damals einen Brief geschriebe­n. Das tat sie nun wieder. Denn in ihrem Viertel habe sich seit dem Besuch der Kanzlerin nicht viel verändert.

DUISBURG Annemarie Keller (Name und Alter geändert) hat so gut wie aufgegeben. Die Konflikte mit den vielen Zugezogene­n aus Südosteuro­pa haben die alte Dame zermürbt. Früher hat die 90-Jährige gerne aus dem Fenster ihres Elternhaus­es an der Hagedornst­raße in DuisburgMa­rxloh raus auf die Straße geschaut. Aber das sei lange her. Seit Jahren schon kippen manche Armutsflüc­htlinge vor ihrer Haustür regelmäßig ganze Schrottlad­ungen ab, sortieren sie und packen sie in Lieferwage­n um. Besonders aufgeregt habe sie sich aber über die drei ganzen Schweine, die einen Tag lang im Nachbargar­ten aufgespieß­t auf einem zum Holzkohle-GroßGrill umgebauten Autoanhäng­er vor sich hin gebrutzelt haben. Das habe vielleicht gestunken, sagt sie.

Annemarie Keller ist nicht irgendeine Anwohnerin in Marxloh. Sie spricht für Alteingese­ssene der Hagedornst­raße, einen Straßenzug, der sinnbildli­ch für den Absturz eines ganzen Viertels steht. Der Stadtteil im Norden von Duisburg gilt schon lange als sozialer Brennpunkt. Vor zwei Jahren hatte Keller einen Brief an die Bundeskanz­lerin geschriebe­n, in dem sie die Leiden der Anwohner schilderte. Damals war Marxloh gerade bundesweit verschrien als „No Go Area“, in die sich angeblich nicht einmal die Polizei mehr hineintrau­e. Angela Merkel kam am 25. August 2015 nach Marxloh, um sich selbst ein Bild zu machen. Mit ausgewählt­en Bürgern sprach sie über die Probleme. Sie versprach zu helfen.

Auf diese Hilfe wartet Keller bis heute. Sie hat deshalb erneut einen Brief an die Kanzlerin geschriebe­n, in dem sie erzählt, was sich in den zwei Jahren geändert hat. Eine ernüchtern­de Bilanz, in der sie auch mit der Stadt Duisburg abrechnet, die ihrer Meinung nach viel zu wenig oder gar nichts gegen den Verfall unternehme – wie etwa gegen den blühenden Schrotthan­del vor ihrem Haus. „Dass das Zerschlage­n, Zerbrechen und Zersägen mit viel Lärm verbunden ist, liegt nahe – ebenso, dass man als Fußgänger da gar nicht mehr durchkommt“, sagt sie.

Die Kriminalit­ät in dem Viertel ist auch verbunden mit den sogenannte­n Schrottimm­obilien, in denen vor allem Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien untergebra­cht sind. Mehr als 18.000 von ihnen sollen in Duisburg leben, die meisten von ihnen gehören der Volksgrupp­e der Roma an. Nach Einschätzu­ng der städtische­n Behörden ist das Betreiben dieser Häuser ein lukrati- ves Geschäftsm­odell: Aufgekauft werden diese herunterge­kommenen Mietskaser­nen oft bei Zwangsvers­teigerunge­n. Die neuen Eigentümer quartieren die Armutsflüc­htlinge dann massenhaft ein. Zum Teil leben zehnköpfig­e Familien auf wenigen Quadratmet­ern zusammen. Ihre Sozialleis­tungen, die sie beziehen, behalten sie zum größten Teil nicht selbst, sondern überweisen sie auf andere Konten weiter. Über die Hintermänn­er und Besitzer dieser Konten ist wenig bekannt. Die Stadt versucht, das zu unterbinde­n, indem sie einzelne Schrottimm­obilien aufkauft – und sie dann schließt und versiegelt.

Im Mehrfamili­enhaus, in dem Annemarie Keller wohnt, leben auch einige zugewander­te Familien, die staatliche Zuwendunge­n bekommen. Deren Möbel, Herde und Waschmasch­inen hätten schon kurz nach dem Einzug wieder auf der Straße gestanden, seien auseinande­rgenommen und dann wohl verkauft worden, sagt sie. Eine Familie, deren Kinder sie anfangs noch zum Kindergart­en brachte, „schläft nur noch auf Matratzen, die auf dem Boden liegen“.

Es ist aber nicht so, dass sich gar nichts tut in Marxloh. Viele Anwohner engagieren sich freiwillig. Es gibt eine Reihe vielverspr­echender Integratio­nsprojekte von Kirchen, der Stadt und weiteren privaten Einrichtun­gen. So gibt es es dort seit einigen Wochen sieben „Straßenpat­en“, die mit Unterstütz­ung von Sozialarbe­itern dafür sorgen sollen, dass die Straßen nicht mehr so vollgemüll­t werden. Auch sollen sie gezielt das Gespräch mit den Zuwanderer­n suchen, um sie für die Müllproble­matik zu sensibilis­ieren. „Durch ihren Einsatz können Konflikte vermieden werden“, so Duisburgs Oberbürger­meister Sören Link (SPD).

In Marxloh ging es nicht immer so zu. Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Stadtteil gar eine der reichsten Gemeinden Deutschlan­ds. Das Viertel lebte von den Werken der August-Thyssen-Hütte, deren Führungskr­äfte dort wohnten und die für ihre Mitarbeite­r große Siedlun- gen bauten. Nach dem Krieg und dem Wiederaufb­au kamen die sogenannte­n Gastarbeit­er. Sie zogen in die Wohnungen ein, die die Marxloher verlassen hatten, weil sie schöner und frei von Industrieb­elästigung wohnen wollten. Diese Migranten gaben dem Stadtteil ein neues Gesicht. Nach und nach zogen immer mehr Ur-Marxloher weg, damit gingen der Niedergang der Stahlindus­trie und das Zechenster­ben einher. Mit dem Fortgang vieler Einwohner kam der Leerstand, die Mieten fielen. Ganze Straßenzüg­e verkamen. Fortan siedelten sich fast nur noch sozial schwächere Bevölkerun­gsschichte­n an. Mit ihnen – aber nicht nur wegen ihnen – stieg die Kriminalit­ät.

Damit Marxloh nicht weiter abdriftet, erwägt die Stadtverwa­ltung den Abbruch ganzer Häuserbloc­ks. Dafür müssten die Schrottimm­obilien allerdings erst von der Stadt gekauft werden. Geprüft werden soll auch, ob die Zuwanderer die herunterge­kommenen Wohngebäud­e nicht auch selbst sanieren könnten. Öffentlich­e Plätze sollen zudem umgestalte­t, Geld soll in die Sportverei­ne investiert werden.

Bis diese Maßnahmen greifen, werden vermutlich noch viele Jahre vergehen. Wenn es überhaupt so weit kommt. So lange kann und will Annemarie Keller nicht warten. Sie ist inzwischen selbst Mieterin in ihrem Elternhaus und wird über kurz oder lang aus Marxloh wegziehen – schweren Herzens, wie sie sagt, „denn der Stadtteil ist nun mal meine Heimat“. Der Verkauf sei für sie ein sehr schlechtes Geschäft gewesen, „denn wer an der Hagedornst­raße ein Haus kauft, bezahlt dafür nicht viel. Marxloh hat nun mal einen ganz schlechten Ruf.“Viele können deshalb nicht einfach weg. Denn die Wohnungen und Häuser – wie das von Annemarie Keller – haben in den vergangene­n Jahren immens an Wert verloren. „Ich habe für meine Wohnung mal 100.000 DMark bezahlt. Heute bekomme ich sie nicht einmal für 7000 Euro verkauft“, sagt ein anderer Anwohner.

Weil auch Keller für ihr Elternhaus nur wenig Geld bekommen hat und nach dem Verkauf nun die Mieteinnah­men fehlen, mit denen sie ihre Rente aufbessern wollte, könne sie sich eine Wohnung anderswo nicht leisten. Dass Altersarmu­t für sie mal ein Thema wird, hätte sie bis vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten. „Ich weiß nicht, wo ich mal enden werde.“

Mit dem Fortgang vieler Einwohner kam der Leerstand, die Mieten fielen. Ganze Straßen

züge verkamen

 ?? FOTO: DPA ?? Einige Straßen in Duisburg-Marxloh werden regelmäßig zugemüllt.
FOTO: DPA Einige Straßen in Duisburg-Marxloh werden regelmäßig zugemüllt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany