115.000 Menschen in Notunterkünften
Hurrikan „Irma“hat gestern Florida erreicht. Millionen Menschen flohen vor dem Sturm. Wer bleiben musste, suchte Schutz in Notunterkünften. In unzähligen Haushalten fiel der Strom aus. Es gab bereits Todesopfer.
MIAMI Am Sonntagmorgen war der Katastrophenfall eingetreten. Um 9.10 Uhr Ortszeit zog das Auge des Wirbelsturms Irma über Cudjoe Key hinweg, eine der tischebenen Inseln jener Kette, die sich von Miami durchs offene Meer Richtung Havanna zieht. Das Eiland drohe komplett von einer Sturmflut überschwemmt zu werden, warnte ein Sprecher des Nationalen HurrikanZentrums. „Deshalb ist jeder in den Keys so dringend zur Evakuierung aufgefordert worden.“Wird auch nur eine der 42 Brücken, welche die Florida Keys mit dem Festland verbinden, von den Fluten zerstört, ist die gesamte Inselgruppe auf Tage, womöglich Wochen, von der Außenwelt abgeschnitten.
Auf seinem Weg von der Nordküste Kubas hatte Irma wieder an Stärke
„Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Etwas Ähnliches haben wir
noch nie erlebt“
Kevin Rambosk
Sheriff von Naples
gewonnen. Nachdem der Sturm nach dem Aufprall auf Kuba ein wenig von seiner Wucht verloren hatte, war er erneut zu einem Hurrikan der Kategorie 4 heraufgestuft worden. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 205 Stundenkilometern drohte er katastrophale Schäden anzurichten. Zuvor hatte Gouverneur Rick Scott rund sechseinhalb Millionen Bewohner Floridas aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen. Das ist fast ein Drittel der Bevölkerung des „Sunshine State“. Mehr als 115.000 Menschen verbrachten die Nacht zu Sonntag in Notunterkünften. In mehr als zwei Millionen Haushalten fiel der Strom aus, wobei klar ist, dass es sich dabei nur um vorläufige Zahlen handelt.
In Naples, der nächsten größeren Stadt auf dem prognostizierten Weg Irmas, verwandelten die Behörden eine Schule nach der anderen in Notlager für Schutzsuchende, die Hals über Kopf ihre Häuser verließen. Im Auto Richtung Norden zu fliehen, dafür war es ab Samstagmittag zu spät. Windböen und heftiger Regen, warnte Gouverneur Scott, könnten die Leute auf den Highways überraschen, umgestürzte Bäume die Fahrbahn versperren. Die Behörden meldeten erste Todesopfer.
Für viele, die nicht mit dem Schlimmsten gerechnet hatten, gab es keine andere Wahl, als zu bleiben. In Naples waren die Schulturnhallen binnen weniger Stunden bis auf den letzten Platz gefüllt. Hunderte, die draußen Schlange standen, mussten abgewiesen werden. Am Samstagnachmittag öffnete Temple Shalom, eine Synagoge, ihre Türen für Evakuierte. Kurz darauf folgte die First Baptist Church, eine Megakirche. Abends um zehn musste auch sie mitteilen, dass sie niemanden mehr aufnehmen kann.
Ein Wettlauf gegen die Zeit, so beschreibt es der Sheriff Kevin Rambosk in einem Interview mit der „Naples Daily News“. Erst sei die Rede von einem Sturm gewesen, der eine der beiden Küsten Floridas bedrohe. Daraus sei der flächenmäßig größte Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnungen geworden, ein Sturm, der die gesamte Halbinsel erfasse. „Etwas Ähnliches haben wir noch nie erlebt“, sagt Rambosk.
Bis Freitag hatte sich Naples noch relativ sicher gefühlt. Irma, zeigten die Modelle des National Hurricane Center, würde über die Atlantikküste hinwegziehen, über Miami, über Fort Lauderdale, über Palm Beach mit seinen Millionärsvillen und Donald Trumps Strandclub Mar-aLago.
Dann aber änderten sich die Prognosen, Irmas angenommene Route verlagerte sich weiter nach Westen. Plötzlich waren Orte an der Golfküste in größerer Gefahr,Naples, Fort Myers, Tampa und St. Pe- tersburg. Rettungskräfte, die mit ihren Fahrzeugen von der Ost- an die Westküste Floridas verlegt worden waren, in vermeintlich weniger gefährdetes Gebiet, um nach dem Sturm in Miami helfen zu können, wurden hektisch in die entgegengesetzte Richtung beordert.
Sheriff Rambosk legte den Finger in die Wunde: Naples müsse nun erkennen, dass es nicht vorbereitet sei auf einen Hurrikan dieser Stärke. Die Infrastruktur des Katastrophenschutzes habe nicht Schritt gehalten mit dem Bevölkerungsboom, skizziert er das Dilemma. Zählte Collier County, der Bezirk, dessen Verwal- tungssitz Naples ist, im Jahr 1990 noch 154.000 Bewohner, so sind es heute über 350.000. Betuchte Rentner aus ganz Amerika zieht es in den Südzipfel des Landes, nicht nur wegen des Meeres und der Sonne, sondern auch wegen der vergleichsweise niedrigen Steuern in Florida.
Bis zum Samstag hatten nach Angaben des Sheriffs gerade mal 16.000 Menschen Platz in Notunterkünften gefunden. „Wie sollen wir 350.000 Leuten Schutz bieten, wenn wir einfach nicht genügend Gebäude haben, die sich dafür eignen?“Nach Irma, fordert Rambosk müsse ein Umdenken erfolgen.