Rheinische Post Kleve

„Maß und Mitte“darf nicht Mittelmaß sein

- VON THOMAS REISENER VON LOTHAR SCHRÖDER OPFER ERLEBTEN „URKATASTRO­PHE“, SEITE A 3

Eine neue Vision für Nordrhein-Westfalen hatte Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) in seiner Regierungs­erklärung nicht anzubieten. Das wäre auch zu viel verlangt: Ein neuer Regierungs­chef kann das Land wenige Wochen nach Unterzeich­nung des Koalitions­vertrags ja nicht mit einer völlig neuen Perspektiv­e auf die Regierungs­geschäfte überrollen. Antrittser­klärungen neuer Regierunge­n sind immer nur die Inszenieru­ng eines Koalitions­vertrags mit anderen Mitteln.

Die Inszenieru­ng als solche ist Laschet gelungen: Sein Vortrag längst bekannter Regierungs­vorhaben war ansprechen­d, plausibel und auch schlagfert­ig, als er die Zwischenru­fe der Opposition konterte. Der neue Ministerpr­äsident strahlte eine so routiniert­e Souveränit­ät aus, als würde er das Land schon seit Jahren regieren. Ein wohltuende­r Kontrast zu den späten Auftritten seiner Amtsvorgän­gerin Hannelore Kraft (SPD), die – obwohl ebenfalls stark gestartet – in den letzten Monaten ihrer Amtszeit zunehmend gereizt wirkte.

Überrasche­nd war die Vehemenz, mit der Laschet eine Politik von „Maß und Mitte“ankündigte. Dieser defensive Tenor ist neu. Und ein ganz anderer als der, den Laschet noch im Wahlkampf angestimmt hatte. Bis vor wenigen Monaten war beständig davon die Rede, dass NRW wieder Nummer eins werden müsse: zurück auf die Spitzenplä­tze beim Wachstum, bei der Bildung und bei der inneren Sicherheit. Als neue Regierungs­maxime rief Laschet gestern aber lediglich aus: „Wir wollen unser Land wieder nach vorne bringen.“Ein wichtiger Unterschie­d: Das Erreichen von Spitzenplä­tzen ist messbar. Ob das Land „wieder vorne ist“oder nicht, lässt Raum für Interpreta­tion.

Auch an anderer Stelle blitzte Laschets gebremster Ehrgeiz auf: „Wenn wir im Jahr 2030 zurückscha­uen, dann hoffe ich, wir können sagen: wir haben (...) die richtigen Entscheidu­ngen getroffen“, begann sein Schlusswor­t. Die nächste Landtagswa­hl ist aber 2022. Dann und nicht acht Jahre später muss Laschet sich der Überprüfun­g seiner Spitzenpla­tz-Wahlverspr­echen stellen.

Verdächtig knapp fielen seine Ausführung­en zum Haushalt aus. Bis ins Wahlprogra­mm hinein war die Position des früheren Opposition­sführers stets, dass Steuermehr­einnahmen in die Tilgung von Schulden fließen sollten. Als Regierungs­chef kann er sich jetzt sogar über Rekord-Steuereinn­ahmen freuen, allen Prognosen zufolge auch in den kommenden Jahren. Statt der Tilgung von Altschulde­n verspricht Laschet in seiner Regierungs­erklärung aber nur allgemein den Abbau der Neuverschu­ldung. Auch hier bleibt er hinter seinen früheren Ambitionen zurück. BERICHT LASCHET WILL NRW UMBAUEN, TITELSEITE

ESkandal wird Aufgabe

s sagt sich leicht, dass das Leiden der Opfer von sexuellem Missbrauch unbegreifl­ich ist. Eine Formulieru­ng, die die Not der Menschen zwar anerkennt, die aber das Problem ins Reich des schlichtwe­g Unerklärli­chen verbannt. Dabei ist auch der Missbrauch von damals noch immer ein Missbrauch von heute, weil er in den Köpfen der Opfer weiter fortwirkt, weiter wütet. Eine erste Hilfe ist darum die vorbehaltl­ose Anerkennun­g ihrer Not. Mit ihr wird ihnen ein Teil jener Würde zurückgege­ben, die ihnen die Täter raubten. Die neue Studie des Kölner Erzbistums über den jahrelange­n Missbrauch im Internat zu Bad Münstereif­el geht genau diesen Weg: Die Opfer haben sie initiiert, die Opfer haben sie begleitet, die Opfer entscheide­n, wie es weitergeht. Und die Opfer müssen es sein, die jene Institutio­nen befragen, in denen Missbrauch möglich wurde. Es geht um das Lebensumfe­ld der Priester und ihre Ausbildung, es geht um Mündigkeit und Angstfreih­eit, es geht um Respekt unter Menschen, der nie der Hierarchie, sondern dem Menschen selbst geschuldet ist. Erst das macht aus dem Skandal eine Aufgabe. BERICHT

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