Richter: „Keiner wollte Hilfe leisten“
Zwei Männer und eine Frau sind gestern in Essen zu Geldstrafen verurteilt worden, weil sie in einem Bank-Foyer einem schwer verletzten Rentner nicht geholfen haben. Der 83-Jährige starb später an einem Schädelhirntrauma.
ESSEN Im Saal 1 des Essener Amtsgerichts ist es ganz ruhig, als die Aufnahmen der Überwachungskamera aus dem Vorraum der Filiale der Deutschen Bank vom Nachmittag des 3. Oktober 2016 gezeigt werden. Niemand sagt etwas. Manche halten sich die Hand vor den Mund, andere schauen entsetzt weg. Einige schlucken schwer. Die Bilder zeigen, wie ein 83-Jähriger am Geldautomat plötzlich umkippt und mit voller Wucht auf den Hinterkopf fällt. Nach einem kurzen Moment rappelt er sich auf, stürzt dann aber wieder auf den Kopf. Dennoch schafft er es noch einmal, auf die Beine zu kommen, ehe er erneut auf den Kopf fällt und mitten im Foyer schwer verletzt liegen bleibt. In der Folge kommen insgesamt vier Bankkunden, die sich aber nicht um den am Boden liegenden Rentner kümmern, ihn nicht ansehen, sondern nur um ihn herumgehen. „Man ist sprachlos, wenn man das Video sieht“, sagt Staatsanwältin Nina Rezai. „Die Aufnahme ist außerordentlich erschreckend.“Der 83-Jährige war eine Woche später an den Folgen eines schweren Schädelhirntraums in einem Essener Krankenhaus gestorben.
Drei der auf dem Video zu sehenden Bankkunden sind gestern vorm Essener Amtsgericht wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen verurteilt worden, die sich nach deren Einkommen richten. Eine 39Jährige muss insgesamt 3600 Euro Strafe zahlen, ein 61-Jähriger 2800 und ein 55-Jähriger 2400 Euro. Der vierte Angeklagte konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht an dem Prozess teilnehmen.
„Der Rentner ist den Bankkunden einfach gleichgültig gewesen“, sagte Amtsrichter Karl-Peter Wittenberg bei der Urteilsbegründung. „Die drei haben billigend in Kauf genommen, dass da jemand liegt, der Hilfe benötigt. Aber keiner wollte Hilfe leisten.“Alle Angeklagten hätten eine „Scheißegal-Haltung“an den Tag gelegt. Wittenberg stellte aber auch klar: „Niemand von ihnen ist für den Tod des Mannes verantwortlich. Das sind keine Monster.“
Erst nach 20 Minuten hatte ein weiterer Bankkunde die Polizei alarmiert. Eine Neurologin sagte in dem Prozess als Gutachterin aus, dass ein schnelleres Eingreifen das Leben des Mannes nicht gerettet hätte. „Bei solchen Verletzungen spielt es keine Rolle, ob der Notruf eine halbe Stunde früher eingeht oder nicht“, erklärte sie. Der Rentner sei im Krankenhaus ansprechbar gewesen und hätte seinen Namen gesagt. Er hätte sich sogar auf dem Wege der Besserung befunden, ehe sein Kreislauf plötzlich versagte. Wieso er stürzte, konnte vor Gericht nicht geklärt werden. Schwere Vorerkrankungen, die das hätten auslösen können, haben die Ärzte und die Gerichtsmedizin nicht festgestellt. Auch seine Tochter (55), die als Zeugin aussagte, konnte keine Hinweise auf eine Ursache geben.
Zwei Anwälte akzeptierten das Urteil nicht. Sie wollen in Berufung gehen. „Ich bin davon überzeugt, dass es nicht zur Anklage gekommen wäre, wenn es nicht so ein großes Medieninteresse um den Fall gegeben hätte“, sagte einer der Verteidiger. Alle Verurteilten hatten sich im Prozess für ihr Verhalten entschuldigt. Der 55-Jährige erklär- te, er sei wegen Erkrankungen seiner Eltern „neben der Spur“gewesen, als er an jenem Tag das Foyer betrat. Alle erklärten, dass sie den 83-Jährigen für einen schlafenden Obdachlosen gehalten haben. Diese würden dort oft im Foyer der Filiale liegen, was auch die Polizei bestätigte. „Ich bin dort schon öfters von Obdachlosen belästigt worden“, sagte die einzige Angeklagte, die zwei Trinkhallen betreibt. „Ich gehe deshalb da immer nur schnell rein, mache meine Erledigungen und gehe wieder“, betonte sie. Die Deutsche Bank trage ihrer Meinung nach vielmehr eine gewisse Mitschuld, dass man sich nicht um den Rentner gekümmert habe. Denn anders als andere Banken in ihrem Stadtteil, argumentierte sie, käme man in de- ren Foyer ohne Bankkarte, die Tür der Deutschen Bank sei für jeden immer offen. Und deshalb seien dort häufig schlafende Obdachlose, weshalb man den Rentner eben auch für einen solchen gehalten habe.
Das war zu viel für den Richter. Der 83-Jährige habe schließlich mitten im Weg gelegen und sich sogar noch geschnäuzt. „Dann soll mir einer erzählen, das ist ein Schlafender? Ich bitte Sie“, sagte Wittgenstein. Und die Staatsanwältin erklärte in ihrem Plädoyer: „Eine Hilfeleistung war möglich und zuzumuten. Heutzutage hat jeder ein Mobiltelefon, damit ein Notarzt verständigt werden kann.“Außerdem habe es in der Filiale ein Telefon gegeben.