Rheinische Post Kleve

Der harte Kern

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kaum ein Tag, an dem nicht neue Horrormeld­ungen in der Öffentlich­keit verbreitet wurden, wer da alles in Kalkar aufschlage­n werde. Die Bildzeitun­g ließ keine Zweifel an der Gesinnung der Atomkraftg­egner und beschrieb diese mit: „Der harte Kern besteht aus reinen Terroriste­n, ja sogar Verbrecher­n.“

Homogen war die Gruppe nicht, die Widerstand gegen das in Kalkar gefertigte „Stück Zukunft“leistete. Ständig gehörte die Diskussion über Gewalt zu der Szene wie die Suche nach dem eigenen Gleichgewi­cht. Heftige Auseinande­rsetzungen zwischen Zielen und Methoden waren an der Tagesordnu­ng. „Es ging ständig darum, abzuwägen, wie weit man gehen durfte“, sagt Schmitz. Den Aktivisten war klar: Kommt es zu Gewalt, tritt das eigentlich­e Ziel in der öffentlich­en Wahrnehmun­g hinter die Art der Umsetzung zurück.

Aus Sicht von Bruno Schmitz hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung bei großen Teilen der Bevölkerun­g ohnehin nichts zu verlieren. „Wir galten als Kommuniste­n und RAFSympath­isanten.“Der Klever war Mitgründer der Bürgerinit­iative „Stop Kalkar“. Seine Protestakt­ivitäten beschränkt­en sich jedoch nicht allein auf den Brüter. Gorleben, Brockdorf, Grohnde, Wyhl – Möglichkei­ten, sich gegen die riskante Technologi­e zu wehren, gab es reichlich in der Republik. Schmitz war zu der Zeit noch Lehrer. So fuhr er in den großen Ferien mit Gesinnungs­genossen per Planwagen zum AKW Brockdorf und verteilte auf dem Weg Zettel gegen Atomkraft.

Es gab Phasen, da stand der heute 70-Jährige an jedem Wochenende – auf Krawall gebürstet – vor einem Kühlturm. Teilweise tolerierte er damals einige Maßnahmen, die nicht mit seiner friedensbe­wegten Grundhaltu­ng in Einklang zu bringen sind. „Nur durch SchilderHo­chhalten erreicht man nichts“, sagt er rückblicke­nd. Dort waren Leute aktiv, die versuchten überall dort, wo sie hinkommen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlass­en.

Den Termin für den „Sturm auf den Brüter“hatte Schmitz sorgsam ausgesucht. „Wir mussten warten, bis die Sommerferi­en in allen Bundesländ­ern beendet waren.“Doch bevor es am Niederrhei­n zu einer Bauplatzbe­setzung kommen konnte, schlug die Staatsmach­t zu. Grenzüberg­änge, große Bahnhöfe wie in München, Hamburg, Stuttgart oder Frankfurt wurden nach potenziell­en Gefährdern kontrollie­rt. Nicht ohne Grund. Bei Teilen der Anti-Atomkraft-Bewegung war der Respekt vor Recht und Gesetz schwach bis gar nicht ausgeprägt. Zudem fielen etliche AKW-Proteste zeitlich mit den RAF-Anschlägen zusammen. Die Republik war nervös, und die Konfrontat­ionen an den Bauzäunen der Kraftwerke wurden härter. Das drohende Chaos von Kalkar sollten 8000 Polizisten und Bundesgren­zschützer aus fünf Bundesländ­ern, es gab damals nur zehn, verhindern.

Einzige Strategie war: Die wehrhafte Demokratie muss Stärke zeigen. Obwohl in Deutschlan­d seit Jahren schon Begriffe wie Deeskalati­onstaktik die Runde machten. So gab es Einheiten, die sich unter die Aktivisten mischten und kritische Situatione­n mit Diskussion­en zu entschärfe­n versuchten. Getreu dem Motto: Wer quatscht, wirft keine Steine.

Ein Klever Beamter, der damals an führender Position zum Heer der Polizei gehörte, ist Hans-Jürgen Zacharias (82). Zacharias war zu der Zeit Polizeidir­ektor des Kreises Kleve. Als der Termin für die Kundgebung bekannt wurde, hatte man ihn aus dem Urlaub geholt. Aus seiner Sicht gab es keine Alternativ­e, als mit dem riesigen Aufgebot die Brüter-Baustelle zu sichern. „Es war der bis dahin größte polizeilic­he Einsatz in der Bundesrepu­blik. Wir hatten damals enormen Respekt. Zu der Zeit formierte sich auch der Schwarze Block“, sagt Zacharias. Erfahrunge­n von blutigen Auseinande­rsetzungen bei anderen AKW-Demos lieferten weitere Gründe für eine hochgerüst­ete Polizei.

Noch vor dem Protestmar­sch verkündete der Innenminis­ter des Landes Nordrhein-Westfalen, Burkhard Hirsch (FDP), stolz, man habe bereits 40.000 Aktivisten überprüft. Hirsch wollte die „Spreu vom Weizen trennen“. So ließ er über Nacht alle Verkehrskn­otenpunkte besetzen. Auf den Rheinbrück­en standen Polizisten mit Maschinenp­istolen im Anschlag. Zacharias erzählt von einem Zug, der auf offener Strecke angehalten wurde. Ein Hinweis, dass 250 bis unter die Zähne Bewaffnete in den Waggons sitzen, führte zu dem Einsatz. „Wir haben im Vorfeld etliches an waffenähnl­ichen Gegenständ­en gefunden“, so der ehemalige Polizeidir­ektor. Drahtscher­en, Knüppel, Bolzenschn­eider, Schutzschi­lder, Gasmasken, Materialie­n zum Bau von Molotowcoc­ktails... Zacharias ist auch heute noch von der Strategie der Polizei überzeugt. Auch weil die angekündig­te Besetzung des Bauplatzes ausfiel. Den harten Kern hatte man größtentei­ls aussortier­t.

Mit Bruno Schmitz hatte Zacharias in der heißen Phase mehrmals Kontakt. So habe dieser sich ständig mit anderen AKW-Gegnern auf einem Gelände in der Nähe des Brüters getroffen. Nach einer Verfügung des Kreises durften sich dort jedoch keine Menschen versammeln. Der 82-Jährige betont, dass auch er damals nicht für die Atomenergi­e gewesen sei. „Mir ging es allein darum, dass Recht und Gesetz eingehalte­n werden.“Mit dem Altachtund­sechziger hat er heute keine Probleme mehr. „Wir treffen uns manchmal im Baumarkt und grüßen einander freundlich.“

Für Bruno Schmitz hat sich der jahrzehnte­lange Kampf gelohnt. Nun freut er sich auf 2022. „In dem Jahr gibt’s eine riesengroß­e Fete, dann wird die letzte Zeitbombe abgeschalt­et.“Der 70-Jährige hat die Propaganda der Atomindust­rie nicht vergessen. „Die haben uns erzählt, dass es höchstens alle 125.000 Jahre einen GAU gebe. Tschernoby­l war 1986 und Fukushima 2011. Durch die unbeherrsc­hbare Technologi­e mussten Menschen sterben und riesige Gebiete sind verseucht“, sagt der Klever. Es bedurfte erst mehrerer Reaktorkat­astrophen, bevor in Deutschlan­d die Vernunft siegt. Wichtig für Schmitz ist, dass sie überhaupt siegt. Letztendli­ch ist es zweitrangi­g, aus welchem Grund die richtige Entscheidu­ng getroffen wird. Denn es ist egal, so der Kommunist Deng Xiaoping, ob die Katze weiß oder schwarz ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse.

 ?? ?? Brüterdemo­nstration am 24. September 1977: 8000 Beamte wurden zusammenge­zogen, um die „gewalttäti­gen Elemente“auszusorti­eren.
Brüterdemo­nstration am 24. September 1977: 8000 Beamte wurden zusammenge­zogen, um die „gewalttäti­gen Elemente“auszusorti­eren.
 ?? ?? Sandcontai­ner kurz vor dem Umsturz.
Sandcontai­ner kurz vor dem Umsturz.
 ?? ?? Demonstran­ten und Tränengas.
Demonstran­ten und Tränengas.
 ?? ?? Reizstoff wird aus Auge ausgespült.
Reizstoff wird aus Auge ausgespült.

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