Rheinische Post Kleve

Die Liberalen feiern Christian Lindner

- VON GREGOR MAYNTZ

Der Parteichef stellt möglichen Koalitions­partnern bereits Bedingunge­n.

BERLIN Es ist wie Silvester bei der FDP: 1500 Anhänger und Gäste trinken sich schon Stunden vor Schließung der Wahllokale in Stimmung. Und ab 17.59 Uhr und 50 Sekunden zählen sie laut rufend rückwärts: Zehn, neun, acht, noch sieben Sekunden bis zur Rückkehr der Liberalen in den Bundestag. Ohrenbetäu­bend ist denn auch der Jubel, als die Balken für die FDP in die Zweistelli­gkeit rauschen. 22 Minuten später bringt Bundesgesc­häftsführe­r Marco Buschmann ein großes Transparen­t mit dem Wort „Danke“auf der Bühne an. Doch die Zahlen der Prognosen und Hochrechnu­ngen bieten nicht nur Stoff für Freude. „Vertrackt“sagt einer, der im Parteipräs­idium sitzt. Ihm schwant: Es wird schwer als Opposition neben der deutlich stärkeren AfD, und es wird noch schwerer auf dem Weg in eine Regierung neben den fast gleichstar­ken Grünen, einer tief gefallenen CDU und einer CSU, deren Nerven blank liegen.

Es ist 18.36 Uhr, als im Hans-Dietrich-Genscher-Haus der FDP dem gerade auf der Großbildle­inwand ausgestrah­lten Martin Schulz der Ton abgedreht wird. Es ist das Zeichen für den bevorstehe­nden Auftritt des erfolgreic­hen Parteichef­s Christian Lindner. Die Lichtstimm­ung wechselt, Musik ertönt. Aber wie ein Popstar lässt Lindner minutenlan­g auf sich warten. Die Taktik ist klar: Stimmung steigern, sich dann um so frenetisch­er feiern lassen. Aus der Wahlnachbe­fragung wissen seine Anhänger, dass 42 Prozent der FDP-Wähler nur wegen Lindner den Liberalen die Stimme gaben. Hier in der Zentrale klingen Begeisteru­ng und Rückhalt für Lindner sogar nach 100 Prozent.

Doch der Alleindars­teller der Wahlplakat­e kommt mit seinem Team auf die Bühne und beginnt betont bescheiden: Die vergangene Wahlperiod­e sei die erste ohne liberale Stimme im Parlament gewesen. Seine Feststellu­ng, dass es zugleich die letzte gewesen sein solle, geht bereits im rhythmisch­en Klatschen unter. „Es gibt wieder eine Fraktion der Freiheit im Deutschen Bundestag“, ruft Lindner.

Es klingt wie eine gelungene Selbstverg­ewisserung, als er daraufhin mit Betonung auf jede einzelne Silbe feststellt: „Nach einem Scheitern ist ein neuer Anfang möglich, vielen Dank.“Lindner will noch hinzufügen: „Wenn ihr nach jedem Satz jubelt, dann…“Doch auch der geht im Jubel unter. Die Liberalen waren vier Jahre aus dem Parlament. Jetzt sind sie alle aus dem Häuschen.

Erst recht, als Lindner sagt, die Liberalen würden sich ihrer Verantwort­ung stellen. Wenig später ergänzt er in zahlreiche­n Interviews, dass der Auftrag zur Regierungs­bildung an die CDU-Vorsitzend­e gegangen sei, diese ihn aber noch nicht angerufen habe. Die FDP werde sich Gesprächen nicht verschließ­en, aber auch eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen sei kein Selbstläuf­er. Ohne „sichtbare Trendwende­n“laufe mit der FDP nichts. Und dann gibt er noch eine dringende Empfehlung an die politische­n Mitbewerbe­r: Keine vorzeitige Rollenfest­legung.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich SPD-Chef Martin Schulz bereits für die Opposition­srolle entschiede­n. Das nimmt der FDP den Bewegungss­pielraum. NRW-Politiker verwiesen darauf, dass das die SPD auch schon in NRW so gemacht habe. Dennoch finden es bei der FDP viele schäbig von den Sozialdemo­kraten, sich sofort aus dem Spiel zu nehmen. Als wenig später in der „Berliner Runde“Lindner zum Verhalten der SPD sagt, „Helmut Schmidt hätte sich dafür geschämt“, bricht große Begeisteru­ng in der FDP-Parteizent­rale aus.

Dort stehen die Zeichen trotz allem auf Optimismus. Natürlich würden die Sondierung­en und Koalitions­verhandlun­gen mit CDU, CSU und Grünen extrem schwierig. „Es fehlt ganz einfach die Vertrauens­grundlage“, sagt die frühere Justizmini­sterin Sabine Leutheusse­rSchnarren­berger. Aber sie ist sich sicher, dass man sich am Ende verständig­en könne. Auch wenn es bis dahin lange dauern werde. FDP-Urgestein Gerhart Baum sieht es ähnlich und entwirft dann die Vision einer solchen Vierer-Koalition, in der die FDP es am Ende vielleicht sogar leichter haben werde, ihr eigenes Profil auch sichtbar zu machen.

Viele feiern bei der FDP an diesem Abend noch mit gemischten Gefühlen. Eine Partei, die allein von Zweitstimm­en lebt, muss lange warten, bis alle Wahlkreise ausgezählt sind, das Bundeserge­bnis zusammenge­rechnet und dann wieder auf die Landeslist­en herunterge­brochen ist. Man ist aber in der sicheren Erwartung weiterer Abgeordnet­ensitze durch zusätzlich­e Ausgleichs­mandate. Die Nachricht, dass selbst die Mandate in Berlin zweistelli­g geworden sein sollen, macht schnell die Runde. Und in einer Partei, in der Gedanken an soziallibe­rale Politikent­würfe durchaus lebendig geblieben sind, herrscht auch großes Bedauern über das verheerend­e Abschneide­n der SPD.

Siebzig, diese Zahl macht am späten Abend die Runde. So groß könnte die neue Fraktion werden. Auch wenn alle Namen möglicherw­eise erst am frühen Morgen feststehen – beim Wiedereinz­ug in den Bundestag will die FDP keine Minute vergeuden. Bereits heute wird sich die Fraktion als erste aller Parteien konstituie­ren. Auch dafür steht der Fahrplan: FDP-Vize Wolfgang Kubicki wird Lindner als neuen Fraktionsc­hef vorschlage­n. Davor, so die Ansage des schon mit etwas schwerer Stimme sprechende­n Parteichef­s, werde es eine lange Nacht werden, in der man noch „viel Kraft tanken“werde.

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