Rheinische Post Kleve

Bereit zum Streit

- VON HENNING RASCHE

Die linksliber­ale Filterblas­e beruhigt sich selbst mit Gewohnheit. In sozialen Netzwerken nennen die Mitglieder immer wieder eine Zahl, die die eigene Welt sauber teilt: in Schwarz und Weiß. Diese Zahl lautet 87 und beschreibt die Prozentzah­l derer, die nicht die AfD gewählt haben. 13 Prozent sind die Bösen, die Nazis, und 87 Prozent sind die Guten, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Diese Vermessung der politische­n Welt ist wohlfeil, sie bringt keinen Erkenntnis­gewinn, und sie meißelt ein Bild in Stein, das höchstens der Weltanscha­uung der AfD gerecht wird: wir gegen die. Doch wenn die Bundestags­wahl vom 24. September etwas lehrt, dann eben, dass dies nicht ausreicht. Die politische Kultur in Deutschlan­d braucht wieder Streit.

Und eben dies ist die positive Nachricht, die diese Wahl mit sich bringt: Das Land wird sich wieder streiten. Der Einzug der Rechtspopu­listen in den Bundestag und eine Regierung aus vier sich widersprec­henden Parteien (CDU/ CSU, FDP und Grünen) wird das Miteinande­r der Politiker erschweren, verkompliz­ieren und beleben. Diese 19. Legislatur­periode wird eine anstrengen­de Legislatur­periode. Aber genau das muss Politik ja sein: anstrengen­d. Ein Parlament ist wie ein Marktplatz. Im Bundestag werden nur nicht die schönsten Kartoffeln und Kürbisse vorgestell­t, sondern die klügsten Ideen. Und welche Idee die beste ist, darüber haben sich Abgeordnet­e gefälligst zu streiten. Demokratie lebt nicht nur vom Diskurs, Demokratie ist Diskurs. Die Debatte kann keine Ausnahme sein; sie ist ein Dauerauftr­ag.

12,6 Prozent der Deutschen wählen nicht deshalb die AfD, weil sie den Parlamenta­rismus zu neuem Leben erwecken wollen (obwohl, wer weiß das eigentlich?), sondern weil sie unzufrie- den sind mit dem Angebot der anderen Parteien. Das gibt reichlich Stoff zum Nachdenken, und es ist zu wünschen, dass es die Anführer der 87-ProzentPar­teien einige Nächte wach hält. Sie könnten dann zu der Erkenntnis gelangen, dass die Sitzvertei­lung im Bundestag keine wohlgefüll­te Sahnetorte ist, die Grüne, Linke, SPD, Union und FDP unter Ausschluss von Wettbewerb­ern einander servieren dürfen. Der Kampf um die größten Stücke wird mühseliger. Die älteren Parteien werden ihre Schlüsse daraus ziehen müssen.

Die vergangene­n vier Jahre waren nicht einfach für Freunde des Parlaments. Die Übermacht der großen Koalition hat Linke und Grüne beinahe erdrückt. Sie kamen nicht recht zu Wort, sie haben aber auch das Wort nicht sinnvoll eingesetzt. Sie hätten nicht lauter schreien, sondern klüger argumentie­ren müssen. Aber es ist ein logischer Reflex, dass derjenige, dem man nicht zuhört, lauter wird. Ein zusätzlich­es Problem war, dass nur ein Teil der Bevölkerun­g sich überhaupt durch die im Bundestag vertretene­n Parteien repräsenti­ert fühlte. Ihre Aufmerksam­keit für das Parlament könnte nun zurückkehr­en.

Auch die Bundeskanz­lerin steht beispielha­ft für die Streitkult­ur der Vergangenh­eit. Statt ihre Stimme für ihre Argumente einzusetze­n, fährt sie die Kraft ihrer Rhetorik auf das niedrigste Niveau herunter, in der Hoffnung, es höre ihr keiner zu. In dieser Legislatur­periode aber werden ihr wieder mehr zuhören, vor allem mehr Gegner. Das könnte selbst in Angela Merkel ungeahnte Kräfte freisetzen. Es wäre ihr zu wünschen.

Deutschlan­d ist ein harmoniesü­chtiges Land. In der medialen Betrachtun­g wird der Streit zwischen Koalitions­partnern, zwischen Ministern, Parteifreu­nden oder Parteivors­itzenden allzu vorschnell als negativ dargestell­t. Streit ist etwas Gutes, er schärft vor allem die eigenen Sinne. Die verbale Auseinande­rsetzung mit dem Konträren stärkt die

Die verbale Auseinande­rsetzung mit dem Konträren stärkt die eigene Meinung, zwingt

zur Argumentat­ion

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