Rheinische Post Kleve

Archiv-Einsturz: Gutachten wohl erst 2020

- VON JÖRG ISRINGHAUS UND MAXIMILIAN PLÜCK

Anfang 2018 soll das Strafverfa­hren gegen sieben Angeklagte beginnen. Die Zeit für die Ankläger wird knapp. 2019 droht die Verjährung.

KÖLN Als am 3. März 2009 um 13.30 Uhr das Wasser in der Baugrube „Gleiswechs­el Waidmarkt“der Kölner Nord-Süd Stadtbahn bedenklich stieg, wussten die Arbeiter, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Innerhalb einer halben Stunde gelang es ihnen aber, die Baustelle zu verlassen und Menschen auf der Straße sowie in anliegende­n Gebäuden zu warnen, darunter 15 Personen im Stadtarchi­v. Um 14 Uhr stürzten das Archiv und ein benachbart­es Gebäude ein. Für zwei Anwohner kam jede Hilfe zu spät. Sie konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.

Bis heute ist die Ursache des Unglücks nicht geklärt. Im Januar 2018 soll das Strafverfa­hren vor dem Kölner Landgerich­t eröffnet werden. Die Zeit drängt: Im März 2019 ist der Straftatbe­stand verjährt. Nun verzögert sich möglicherw­eise auch noch das Gutachten des unabhängig­en Sachverstä­ndigen Hans-Ge-

Landgerich­t Köln org Kempfert, wie das Landgerich­t gestern bestätigte. Der Stadtarchi­vProzess steht damit auf der Kippe.

Bisher existieren zwei Szenarien, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Zum einen soll durch Baupfusch ein Loch in einer Schlitzwan­d entstanden sein. Durch dieses Loch sollen dann rund 5000 Kubikmeter Sand und Kies innerhalb kurzer Zeit in die etwa 30 Meter tiefe Grube geflossen sein, so dass unter dem Stadtarchi­v ein Hohlraum entstand und es einstürzte. Auf dieser Version fußen die Gutachten der Staatsanwa­ltschaft, die Grundlage des Strafverfa­hrens sind.

Szenario zwei geht davon aus, dass die Bodenbesch­affenheit anders war als behauptet. Demnach habe man bei der Sondierung des Untergrund­s eine Braunkohle­schicht nicht gesehen. So konnten Erdreich und Wasser sozusagen spontan durch die Bausohle dringen – Experten bezeichnen dies als hydraulisc­hen Grundbruch, eine Art Naturereig­nis. An dieser Version hält die Arbeitsgem­einschaft der am Bau beteiligte­n Unternehme­n (Arge) fest. Das Pikante daran: Angaben zu liefern über die Beschaffen­heit des Bodens ist Aufgabe des Bauherrn, also Stadt und Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB).

Um die Schadensur­sache festzustel­len, wurde eigens ein Besichti- gungsbauwe­rk neben die Grube in die Tiefe gebaut – die Gesamtkost­en allein dafür sollen sich auf mehr als 30 Millionen Euro belaufen. Die Bedingunge­n für die Spurensuch­e sind extrem schlecht: Das Bauwerk steht unter Wasser, Taucher tragen mit Saugschläu­chen 50 Zentimeter Aushub im Monat ab und erstellen Videoaufna­hmen des Lochs, die nach oben übertragen werden. Nur von Kempfert beauftragt­e Taucher dürfen den Schaden begutachte­n. Das Landgerich­t Köln bezeichnet die Arbeiten als „technisch extrem aufwendig“und sagt: „Die Dauer der Begutachtu­ng ist abhängig von technische­n Randbeding­ungen bei der Erkundung.“Eine Verzögerun­g bis ins Jahr 2020 sei möglich.

Für die 23 am U-Bahn-Bau beteiligte­n Unternehme­n steht viel auf dem Spiel. Schließlic­h versuchen die Stadt Köln – als Eigentümer­in des Stadtarchi­vs – und die KVB Schadeners­atzansprüc­he per Zivilverfa­hren geltend zu machen.

Die Stadt sah sich gestern nicht in der Lage, bis Redaktions­schluss Fragen zu den Verfahren und zur Gesamtscha­denshöhe zu beantworte­n. Der frühere Stadtdirek­tor Guido Kahlen hatte jedoch bei einer Veranstalt­ung im Gürzenich davon gesprochen, dass sich der Schaden mindestens auf eine Milliarde Euro summiere.

Der Baukonzern Bilfinger, der zu einem Drittel an der Arge beteiligt ist und damit bei einer Verurteilu­ng einen entspreche­nden Anteil tragen müsste, bezeichnet­e in seinem letzten Geschäftsb­ericht die beiden Verfahren als „bedeutends­te laufende Rechtstrei­tigkeit“, sprach zugleich aber davon, über „einen Versicheru­ngsschutz in ausreichen­der Höhe“zu verfügen.

Die beiden nicht öffentlich­en Beweisverf­ahren selbst führen zwar noch nicht zu einem Urteil. Die von der 5. Zivilkamme­r des Landgerich­ts in Auftrag gegebenen Gutachten dürften aber in einem Hauptverfa­hren den Ausschlag ge- ben. Anders als beim Strafverfa­hren droht keine Verjährung. Die Beweisverf­ahren haben eine sogenannte hemmende Wirkung – vereinfach­t gesprochen: Die Uhr wird quasi angehalten.

Neben dem Beweisverf­ahren, bei dem Gutachter Kempfert die Einsturzur­sachen ergründet (Az.: 5 OH 1/10), beschäftig­t sich das zweite Verfahren mit der Schadenshö­he (Az.: 5 OH 7/11). Das Gericht hat dafür den früheren Leiter des Bundesarch­ivs, Hartmut Weber, als Gutachter beauftragt. Der Professor wählt mit Hilfe statistisc­her Methoden Stichprobe­n aus und errechnet, wie hoch der Restaurier­ungsaufwan­d und der Werteverlu­st ist.

Das Kölner Stadtarchi­v galt bis zu seinem Einsturz als eines der bedeutende­n Archive der Republik. Es beherbergt­e 30 Regal-Kilometer Akten und Amtsbücher, 65.000 Urkunden – die älteste davon stammt aus dem Jahr 922. Hinzu kamen 1800 Handschrif­ten, 150.000 Karten und Pläne, 2500 Tonträger, Filme und Videos sowie mehr als 500.000 Fotos. Nach Angaben des Landgerich­ts wird sich die Begutachtu­ng wohl noch bis ins kommende Jahr ziehen.

Unbestritt­en dürften die Kosten für die Wiederhers­tellung des Archivmate­rials immens ausfallen. Dass alle Archivgüte­r restaurier­t werden müssen, daran lässt der Präsident des NRW-Landesarch­ivs, Frank Bischoff, keinen Zweifel: „Nur ein Bruchteil dessen, was Archive angeboten bekommen, wird überhaupt angenommen. Im Falle des Landesarch­ivs sprechen wir beispielsw­eise von einer Quote von einem Prozent. Wenn die Archivare nach einer kritischen Prüfung die Entscheidu­ng getroffen haben, ein Dokument aufzunehme­n, gilt das unumstößli­ch.“Es spiele keine Rolle, ob der Urheber Karl der Große sei oder es sich um einen Brief von Konrad Adenauer handele. „Es gibt verwaltung­srichterli­che Entscheidu­ngen, die diese gesetzlich verankerte Zuständigk­eit von Archiven unterstrei­chen“, sagt Bischoff. „Das bedeutet im Falle des Kölner Stadtarchi­vs, dass es keine Möglichkei­t gibt, eine Hierarchis­ierung vorzunehme­n und zu sagen, das eine Dokument ist schützensw­erter als das andere. Alles, was dort beschädigt worden ist und geborgen werden konnte, muss wiederherg­estellt

„Die Dauer der Begutachtu­ng ist abhängig von technische­n Rand

bedingunge­n“ „Alles, was dort gebor

gen werden konnte, muss wiederherg­estellt

werden“

Frank Bischoff

Präsident NRW-Landesarch­iv

werden.“Diese Einschätzu­ng stützt die Argumentat­ion der Stadt.

Nach Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeigers“aus dem Jahr 2014 könnte die Schadensum­me sogar mehr als die von Kahlen genannte eine Milliarde Euro betragen: Mitarbeite­r der Stadtverwa­ltung erstellten eine Übersicht, um einen groben Eindruck davon zu bekommen, was an Gesamtscha­den entstanden sei. Demnach habe die Stadt die am Bau beteiligte­n Unternehme­n zwei Jahre nach dem Unglück zu einer Abschlagza­hlung in Höhe von 650 Millionen Euro aufgeforde­rt, die Arge-Firmen hätten dies jedoch abgelehnt. Seitdem laufen virtuelle Strafzinse­n für die nicht getätigte Zahlung an. Zum Zeitpunkt der Aufstellun­g betrugen diese bereits 163 Millionen Euro. Hinzu kommen Kosten für den Rettungsei­nsatz und das anschließe­nde Bergen der Archivalie­n in Höhe von 35 Millionen Euro, Kosten für das Beweisverf­ahren von rund 30 Millionen Euro, den geplanten Neubau des Stadtarchi­vs am Eifelwall für 80 Millionen Euro, 46 Millionen Euro für die Verlagerun­g zweier Gymnasien, die Entschädig­ung der Opfer sowie die Gründung der Stiftung Stadtgedäc­htnis, 130 Millionen Euro für die verzögerte Inbetriebn­ahme der UBahn und 90 Millionen Euro für „Unvorherge­sehenes“.

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FOTO: DPA Feuerwehrl­eute durchsuche­n im März 2009 die Trümmer an der Einsturzst­elle des Kölner Stadtarchi­vs. Bei dem Unglück starben zwei Menschen, rund 30 Kilometer Akten wurden verschütte­t. Rund 85 Prozent der Dokumente konnten mittlerwei­le wieder geborgen...

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