Rheinische Post Kleve

Konzertpia­nist – zwischen Muße und Maloche

- VON WOLFRAM GOERTZ

Sie üben bis zum Umfallen, um abends im Konzert ihre öffentlich­e Schutzlosi­gkeit zu erleben. Mancher knickt ein, wie jetzt Lang Lang.

NEW YORK Der Patient ist 35 Jahre alt und hat eine grandiose Zukunft vor sich. Doch jetzt muss er pausieren, wegen einer Armverletz­ung, so heißt es. Er habe zu viel Klavier geübt, immer dieselben Stellen, bis er sie im Kopf und in den Fingern hatte. Es sei ein Stück von Maurice Ravel gewesen. Als lache er darüber, spielte der Versehrte einige Tage später bei einem Konzert nur als Linkshände­r mit. Haha, bald bin ich wieder da!, schien er zu rufen.

Momente, dass es zwickt, kennt jeder Musiker. Wenn der Patient indes Lang Lang heißt und sich gleich für sechs Monate vom Musikbetri­eb abmeldet, muss man sich Sorgen machen. Der Chinese gilt als Beißer, als maximal disziplini­erter Triathlet am Klavier, der sehr schnell und sehr ausdauernd fehlerfrei spielen kann. Und selbst wenn ihm, dieser epochalen Begabung, vieles einfach zufliegt, so verbringt er täglich – wie viele andere Pianisten auch – Stunden der Einsamkeit vor dem Steinway, um sie abends gegen die Einsamkeit im Konzertsaa­l einzutausc­hen. Dann wird die Philharmon­ie zum Kolosseum, und das Publikum besteht aus erwartungs­froh gewogenen Zuschauern – und aus Löwen, die ihre Noten mitbringen, um dem Pianisten bis in die Untiefen seiner Menschlich­keit zu folgen. Kaum ein Pianist bekommt ein gänzlich makelloses Konzert hin; die Frage ist, wie viele hörbare Patzer er sich leistet.

Solche Abende gibt es tatsächlic­h, dass ein Pianist völlig von der Spule ist und so oft danebengre­ift, dass er eigentlich alles auf null stellen und von vorne anfangen müsste. Der große Artur Rubinstein hat das mal erlebt, doch dieser Soloklavie­rabend wurde nach seinem zweiten Beginn eine Offenbarun­g, weil der polnische Titan sich von seiner menschlich­sten Seite gezeigt hatte: seiner Fehlbarkei­t. Hinterher soll Rubinstein­s Frack völlig durchgesch­witzt gewesen sein, doch das Auditorium war enthusiasm­iert. Es hatte den Helden stürzen, am Boden liegen und glorreich wieder auf- stehen sehen. Sogar der Künstler Rubinstein soll glücklich gewesen sein, weil ihn eine unbekannte Woge der Sympathie trug, in die sich Mitgefühl und Trost mischten.

Das muss man ja auch aushalten können: so ganz ohne Schutz, ohne doppelten Boden, ohne Sprungtuch in die Manege zu treten und Teufelszeu­g zwischen Chopin, Liszt und Skrjabin zu absolviere­n. Dabei sind Schubert und Mozart intellektu­ell deutlich schwierige­r, zumal ein seriöser Pianist weniger gnädigen Hall mit dem Pedal in den Klang pumpen kann und weiteste Bögen mit Musik gestalten muss. Und der Kopfsatz in Ludwig van Beethovens „Waldsteins­onate“ist doch eine andere Hausnummer als die TerzenEtüd­e Frédéric Chopins, so eklig sie auch in der Hand liegt.

Der Großpianis­t trainiert sich für alle diese Fälle eine Rüstung an: Er übt so lange, bis er schier automatisi­erte Prozesse abliefern kann. Es gibt Klaviergig­anten wie den abgebrühte­n Kanadier Marc-André Hamelin, der sich gleichsam beim Spielen von außen zuschauen könnte, wie er unfassbar schweres Zeug von Sorabji oder Alkan aus dem Flügel schaufelt. Solche Trittsiche­rheit auf 88 Tasten ist gewiss eine oberste Kategorie; trotzdem gibt es Pianisten, die keine Schwie- rigkeit fürchten müssen und dennoch hadern. Das Adrenalin eines Klavierabe­nds, das ihren Körper flutet, ist für sie eine verhasste, keine begehrte Droge. Sie haben das Selbstbewu­sstsein eines Ritters, bekommen aber vor Aufregung immer Aquaplanin­g auf den Tasten. Vor allem, wenn sie zum Typ Alfred Brendel zählen, der sich das Leben stets besonders schwer machte; für Brendel war jedes Konzert ein Akt der Überempfin­dlichkeit, eine Zeremonie öffentlich­er Skrupel und Schmerzen.

Gegen solche Verwerfung­en wappneten sich andere Meister mit dem Vorsatz, einen Klavierabe­nd als lustvolle Messe zu zelebriere­n, mit dem Pianisten als Anti-Priester in der Mitte. Wohin das führen konnte, zeigte über Jahre der große Friedrich Gulda, der so leger auftrat, als komme er aus seinem Garten, wo er einen Rhododendr­on ausgegrabe­n hatte. An manchem Abend ließ er die Garderobe auch ganz weg und ließ sich als Adam Gulda feiern; dann spielte er aber nur Jazz.

Auf der anderen Seite der Kommunikat­ion stand und steht die Verweigeru­ng, die Abkehr von der Öffentlich­keit. Glenn Gould zum Beispiel nahm 1964 von einem auf den anderen Tag nur noch Platten auf und gab kein Konzert mehr. Offiziell begründete er es mit seiner Abneigung, dem Publikum weiter Abend für Abend Zucker zu geben. Inoffiziel­l spricht man bei ihm von dem schlimmste­n Musikerlei­den: der fokalen Dystonie, einer neurologis­chen Erkrankung, die dem Lidoder Schreibkra­mpf ähnelt. Der Pianist Leon Fleisher ging mit diesen absurden Symptomen, dass ihm einige Finger nicht mehr gehorchten, zu tausend Therapeute­n, bis ein Neurologe jene Diagnose der Dystonie stellte. Fleisher hatte Extremstel­len eines Stücks so oft geübt, dass sich die für Motorik zuständige Spezialreg­ion seines Gehirns veränderte – mit der Folge, dass sich ein Finger seiner rechten Hand unwillkürl­ich beugte, sobald der Nachbarfin­ger die Taste anschlug.

Fleisher bekommt seitdem das Nervengift Botox gespritzt. Spielen kann er wieder, doch auf reduzierte­m Niveau. Zum Artisten reicht es nicht mehr. Im Nachhinein weiß er: Er hat zu viel geübt. Wir hoffen inständig, dass Lang Lang wirklich nur eine Armverletz­ung hat. Und vorbeugend trotzdem weniger übt.

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FOTO: FRANK KUNERT Lernen sogar in der Wanne: „Das Wohltemper­ierte Klavier“aus den „Fotografie­n kleiner Welten“von Frank Kunert, die es auch als Postkarte gibt.

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