Rheinische Post Kleve

Jamaika-Parteien halten schon zusammen

- VON EVA QUADBECK

Union, FDP und Grüne schmettern gemeinsam etliche Geschäftso­rdnungsant­räge ab. Schäuble mahnt Streitkult­ur mit Anstand an.

BERLIN Der neue Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble rollt barrierefr­ei zu seinem erhöhten Platz hinter dem Rednerpult im Plenarsaal. Stille. Schäuble braucht einige Sekunden, bis er den Knopf neben dem Mikrofon findet, mit dem er sich von nun an das Wort im Parlament selbst erteilt.

Schäuble mahnt im neuen Bundestag, der mit 709 Abgeordnet­en und sieben Parteien so groß und vielfältig ist wie noch nie, eine demokratis­che Streitkult­ur an. „Prügeln sollten wir uns hier nicht, wie es auch in Europa in anderen Parlamente­n bisweilen geschieht“, sagt der 75-Jährige. Da sich dann doch niemand vorstellen kann, dass die Parlamenta­rier in Deutschlan­d körperlich aufeinande­r losgehen, schiebt er hinterher: „Auch nicht verbal sollten wir es tun. Wir können hier vielmehr zeigen, dass man sich streiten kann, ohne dass es unanständi­g wird.“Die Chef-Redner der Republik, Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier und der frühere Bundestags­präsident Norbert Lam- mert verfolgen Schäubles Debüt und die Auftritte der Neuen von der Zuschauert­ribüne aus. Lammert spenden die Abgeordnet­en einen langen Applaus. Mit seinen scharfen Analysen und seinem unbestechl­ichen Demokratie­verständni­s wird er von vielen schon an diesem Tag vermisst.

Dass es bereits während der konstituie­renden Sitzung zur Sache geht, überrascht niemanden. Die höchstwahr­scheinlich künftigen Opposition­sparteien SPD, AfD und Linke fluten die konstituie­rende Sitzung des Bundestags mit Geschäftso­rdnungsant­rägen, die wiederum von den Jamaika-Parteien abgeschmet­tert werden. So weit funktionie­rt das Bündnis also schon.

SPD und Linke zielen mit ihren Anträgen insbesonde­re auf andere Spielregel­n für die Debatten im Plenum. Sie wollen die politische­n Auseinande­rsetzungen attraktive­r machen. Die AfD will in eigener Sache auch einen neuen Sitzungspr­äsidenten bestimmen. Mit einer Änderung der Geschäftso­rdnung noch in der alten Wahlperiod­e hatten die Parteien dafür gesorgt, dass nicht ein AfD-Mann Alterspräs­ident werden kann, sondern Hermann Otto Solms von der FDP zum Zuge kommt. Solms zeigt sich versöhnlic­h und mahnt: „Wir alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte, aber auch gleiche Verpflicht­ungen.“Bei Sätzen wie diesen klatscht die AfD mit den anderen Parlamenta­riern mit.

Obwohl der AfD-Antrag für einen anderen Sitzungspr­äsidenten längst durchgefal­len ist, nutzt Parlaments­geschäftsf­ührer Bernd Baumann die kurze Aussprache zum ersten und einzigen Eklat des Tages. Er zieht von der Paulskirch­e 1848 bis heute eine Linie demokratis­cher Tradition und verweist darauf, dass vor 2017 nur der Nationalso­zialist Hermann Göring 1933 die Regel durchbroch­en habe, wonach der Älteste die Wahlperiod­e eröffnet. Die Provokatio­n sitzt. Ein empörtes Stöhnen geht durch den Plenarsaal. Die meisten Parlamenta­rier mögen aber nicht über das Stöckchen der Populisten springen und vermeiden lautes Geschimpfe über den verbalen Ausfall.

Abgesehen vom Göring-Vergleich unterlässt die AfD weitere Provoka- tionen. Die Fraktionsc­hefs Alice Weidel und Alexander Gauland gratuliere­n Schäuble sogar artig per Handschlag zur Wahl des Bundestags­präsidente­n. Ihr Kandidat für das Präsidium, Albrecht Glaser, freilich fällt erwartungs­gemäß dreimal durch.

Auch die Sozialdemo­kraten laufen sich als Opposition­spartei warm. Parlaments­geschäftsf­ührer Carsten Schneider geht gegen die Kanzlerin, mit der seine Partei immer noch geschäftsf­ührend eine Regierung leitet, zur Attacke über: „Ihr Politiksti­l, Frau Merkel, ist ein Grund dafür, dass wir heute eine rechtspopu­listische Partei hier im Bundestag haben.“Unter anderem mit diesen Worten begründet er seinen Antrag, wonach die Kanzlerin dem Parlament viermal im Jahr Rede und Antwort stehen soll.

Damit hat er die AfD auf seiner Seite. Hinterher muss Schneider vor den Kameras und Mikrofonen in der Bundestags­lobby Fragen beantworte­n, warum die Sozialdemo­kraten gemeinsam mit der AfD stimmen. Derweil gibt auch AfD-Kollege Baumann mit dem Göring-Vergleich Interviews und stellt fest, dass sich die Deutschen vor rumänische­n Banden und Straßenkri­minalität fürchteten.

Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth, die eigentlich von GrünenPart­eitagen gestählt ist, macht am Rande der Sitzung ihrem Ärger über die vielen Geschäftso­rdnungsant­rä- Alexander Gauland (AfD) Alice Weidel (AfD) Marco Buschmann (FDP) Christian Lindner (FDP) Wolfgang Schäuble (CDU) Alexander Dobrindt (CSU) Angela Merkel (CDU) Volker Kauder (CDU) Michael Grosse-Brömer (CDU) Katrin Göring-Eckardt (Grüne) Carsten Schneider (SPD) Andrea Nahles (SPD) Martin Schulz (SPD) Petra Pau (Linke) Jürgen Braun (AfD) Katja Suding (FDP) Stefan Ruppert (FDP) Stefan Müller (CSU) Gerd Müller (CSU) Ursula von der Leyen (CDU) Thomas de Maizière (CDU) Peter Altmaier (CDU) Hermann Gröhe (CDU) Christian Schmidt (CSU) Cem Özdemir (Grüne) Anton Hofreiter (Grüne) Christine Lambrecht (SPD) Sigmar Gabriel (SPD) Ulla Schmidt (SPD) Dietmar Bartsch (Linke) Sahra Wagenknech­t (Linke) Bernd Baumann (AfD) Armin Laschet (CDU) ge Luft. „Nein“, sagt sie, das war keine „Jamaika-Abstimmung“, nachdem die vielen Begehren mit den Stimmen von Union, FDP und Grünen zurückgewi­esen worden sind. „Ich teile, was die Linke sagt“, erklärt die Grüne zu den inhaltlich­en Anliegen, die Debatten im Bundestag spannender zu machen. „Aber das mache ich nicht in der ersten Sitzung.“Der Altliberal­e Burkhard Hirsch, der an diesem Tag als Gast gekommen ist, lächelt sibyllinis­ch bei der Frage, wie sich die Auseinande­rsetzungen im Bundestag künftig entwickeln werden. „Man wird nicht mehr so viele Themen im Bauch des Koalitions­ausschusse­s verschwind­en lassen können“, sagt er.

Die Sitzung muss wegen der Wahlen zum Bundestags­präsidium immer wieder unterbroch­en werden. Während in der Lobby vor dem Plenarsaal der Kampf um die Deutungsho­heit des Geschehens im Parlament tobt, zieht die Kanzlerin in aller Seelenruhe die Strippen. Sie vertieft sich mit einem Grünen nach dem anderen ins Gespräch. Schließlic­h soll am Abend noch das Jamaika-Bündnis verhandelt werden.

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