Rheinische Post Kleve

Der Torhüter, der gegen sich selbst antrat

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

Thorsten Albustin spielte einst für Borussia Mönchengla­dbach und den MSV Duisburg. Dann jagte ihn die Angst durchs Leben. Als sie ihn auch vom Fußballpla­tz vertrieb, konnte ihn nur noch einer retten.

VRASSELT Der Fußballtra­iner Thorsten Albustin besitzt einen Kugelschre­iber, in dem vier Minen stecken. Mit Blau trägt er schon vor dem Spiel die wichtigste­n Informatio­nen über den Gegner in ein Notizbuch ein. Mit Schwarz hält er die Erkenntnis­se fest. Mit Rot die Wechsel. Mit Grün die Tore. Der Kugelschre­iber mit den vier Minen gibt eine Ahnung, warum Albustin da sitzt im Oktober 2017. Auf einem Plastikstu­hl am Rande eines Fußballpla­tz genannten Ackers. Jeans, Kapuzenjac­ke, praktische­r Kurzhaarsc­hnitt. Im Hintergrun­d Windräder und die Dorfkirche von Vrasselt, kurz vor Emmerich. Der Schiedsric­hter mit Bierbauch. Der Kugelschre­iber gibt auch eine Ahnung, wie sich Albustin gegen das schwarze Loch in seinem Leben gestellt hat. Gegen die Ängste. Mehr als zehn Jahre lang.

„Wat hasse, Laser?“, ruft er einem seiner Spieler zu.

„Da war so ein Erdloch. Hat geknackt.“„Sofort Eis drauf.“Die Angst begleitet Albustin zuerst, dann leitet sie ihn. Er ist acht, die Familie im Winterurla­ub in den Bergen, er mit seinem Vater im Sessellift. Eine Lawine geht runter. Ihm passiert nichts. Anderen schon. Die Vorstellun­g, dass es ihn hätte treffen können, verfolgt ihn lange. Er hat Alpträume. Die Angst nistet sich ein.

Ein Sonntag im März 1996. Der Torhüter hat es aus der Kreisliga zu den Amateuren von MSV Duisburg geschafft. Heimspiel, 25. Spielminut­e, 0:0. Ein Schuss aus 25 Metern. Der Ball kommt auf ihn zu, flattert. Albustin zittert. Der Ball rutscht durch die Hände ins Tor. Passiert jedem Torhüter irgendwann. Die meisten kommen drüber hinweg. Albustin aber ist Perfektion­ist. Die Angst zu versagen, spukt ihm schon lange durch den Kopf. Wert hat nur, wer Erfolg hat. Mit 22 Jahren lernt er, dass es das vollkommen­e Leben nicht gibt. Das Gegentor begleitet ihn lange. Er hat noch drei Jahre bis zur ersten Panikattac­ke.

Albustin bringt weiter Leistung, wechselt zu den Amateuren von Borussia Mönchengla­dbach, und als sich mehrere Torhüter verletzen, rückt er zur Nummer 2 bei den Profis auf. In der Saison 1998/1999 macht er zwei Spiele, hält sogar einen Elfmeter. Danach landet er wieder bei den Amateuren. Eines Nachts reißt ihn die Angst aus dem Schlaf. Später wird er darüber in einem Buch schreiben, sein Körper habe gebebt, „als ob tausende aggressive Wespen durch meine Ve- nen rasten“. Angstschwe­iß. Das Gefühl, sterben zu müssen.

Sein Leben läuft nun anders. Die Angst übernimmt. Das Vertrauen zu seinem Körper hat er in dieser Nacht verloren. Sein Vertrag wird nicht verlängert, mit 26 muss er neu anfangen. Bürojob. Oberliga. Bocholt. Hamborn. Dinslaken. Schermbeck. Bei keinem Verein wird er glücklich. Und dann nimmt ihm die Angst noch sein sicherstes Terrain. Ein Pokalspiel unter der Woche, 50 Zuschauer. Es dämmert, niemand schaltet das Flutlicht ein. Albustin ist zu dieser Zeit so emp-

Ach ja, den sogenannte­n Boxsport gibt’s ja auch noch. Er ist nicht jedermanns Sache, denn er hat ein Alleinstel­lungsmerkm­al: Keine andere Sportart ist in ihrem Wesen darauf ausgericht­et, die körperlich­e Unversehrt­heit des Kontrahent­en zu beeinträch­tigen. Boxen ist sanktionie­rte Körperverl­etzung. Grundsätzl­ich steht dieser Tatbestand als solcher natürlich unter Strafe. Dabei spielt es keine Rolle, dass auch der Faustkampf nach festen Regeln abläuft. Jeder Hieb auf den Kopf oder Körper des Gegners fügt diesem Schaden zu – im äußersten Fall nicht nur bis zum K.o., sondern weit schlimmer. Die Geschichte weist auch Todesfälle auf.

Zu den Merkwürdig­keiten dieser Gesellscha­ft gehört es, dass Boxen dennoch geduldet wird und seinen Platz hat. Mehr noch: Die Fernsehans­talten, auch öffentlich-rechtliche, zahlten jahrelang Millionen Gebühren-Euro für die Rechte, dieses archaische Treiben dem interessie­rten Publikum darzubiete­n, das sich an blauen Augen, Nasenbeinb­rüchen, Leberhaken und wehrlos darniederl­iegenden Kämpfern ergötzt. fänglich für die Angst, dass selbst Licht Einfluss auf ihn hat. Sein Herz rast, sein Magen zieht sich zusammen. Er wankt. Will nur noch weg. Täuscht eine Verletzung vor. Lässt sich fallen. Wird ausgewechs­elt. Gibt nach dem Spiel den Coolen. Er wird als Torhüter nie wieder ein Fußballfel­d betreten, denkt er.

Er beginnt zu verstehen, dass er Hilfe braucht. Ein paar Monate später schreit er seinen Chef durchs Telefon an und kündigt. Job weg, Fußball weg. Er kann nicht mal mehr Aufzug fahren, weil er Angst hat, dass er steckenble­ibt. Seelen-Tu-

Da kommt es mitunter sogar vor, dass die profession­ellen Prügelknab­en ihre Schlagfert­igkeit bisweilen unter Missachtun­g der Regeln oder gar außerhalb des Rings anwenden. So geschehen vor geraumer Zeit in Magdeburg, wo der im niederrhei­nischen Kleve lebende Supermitte­lgewichtle­r Khoren Gevor nach seiner Disqualifi­kation wegen eines absichtlic­hen Kopfstoßes gegen mor, so nennt er sein Leiden. Er erzählt seiner Familie davon, seiner Frau, seinen Eltern. Aus dem Fußball hält er sein Geständnis raus. Spricht man nicht drüber. Er macht zwei Gesprächst­herapien gegen seine Angststöru­ng, redet sich alles von der Seele. Aber seine großen Ängste bleiben. Medikament­e will er nicht nehmen. Zu viel Stolz.

Ganz langsam verschafft sich Albustin Luft. Er studiert Sport, wird Torwarttra­iner bei Rot-Weiss Essen. Im Training ist alles okay, Spieltage bleiben ein riesiges Problem. Bei einem DFB-Pokalspiel gegen Borussia Dortmund flüchtet er während des Spiels in den Fitnessrau­m.

Torhüter sind es gewohnt, dass sie nur sich selbst helfen können. Wenn ein Abwehrspie­ler danebenrut­scht, gibt es noch den Torhüter. Wenn ein Torhüter danebengre­ift, ist der Ball im Tor. Vielleicht ist das der Grund, warum Albustin die Sache vor allem mit sich selbst ausmacht. Er hat ein Kämpferher­z. Er hat Ehrgeiz.

Er liest Bücher über seine Angststöru­ng. Er bekämpft seine Höhenangst, indem er sich erst hohe Gebäude von unten anschaut und dann von ihnen hinuntersc­haut. Dann die Angst vorm Stadion. Selbst als Zuschauer sieht er sich dort immer auf dem Platz stehen und umkippen wie damals. Er beginnt mit kleinen Plätzen, schließlic­h wagt er sich zu Spielen in größere Stadien auf die Tribüne, rennt wieder raus und wieder zurück. Er merkt, dass ihm nichts passiert. Sein Matchplan gegen die Ängste funktionie­rt. 2011 hat er die letzte gedämpfte Panikattac­ke. Er hat sich gegen die Angst geimpft.

Dann erobert er den letzten Ort zurück, den die Angst ihm genommen hat. Er geht wieder regelmäßig joggen, verliert fast 20 Kilo und steht 2013 mit 39 Jahren wieder im Tor. Kreisliga. Aber das ist ein anderer Albustin. Die Unbekümmer­theit ist weg, dafür ist er sensibler geworden, verständni­svoller, kritischer gegenüber der Gesellscha­ft, die jeden unter Druck setzt. Der Maßstab ist für ihn nicht mehr die Perfektion. Er sucht Herausford­erungen.

Nun krempelt nicht mehr die Angst sein Leben um, sondern er selbst. Eigentlich soll er als Torhüter nach Dinslaken-Lohberg wechseln, doch als zwei Trainer abspringen, ruft die Klubführun­g an. Albustin will selbst die Fäden in der Hand halten auf dem Platz. Er sagt zu, die Mannschaft steigt in die Bezirkslig­a auf. Dann geht er volles Risiko, kündigt seinen Job als Torwarttra­iner der Schalke-Jugend. Beim Bezirkslig­isten Hamminkeln­er SV verhindert er soeben den Abstieg. Weltmeiste­r Robert Stieglitz derart ausrastete, dass er auf den Ringrichte­r loskeilte. Die Funktionär­e ließen Milde walten. Sie verdonnert­en den Übeltäter zu einer Geldstrafe von 5000 Euro und sperrten ihn für ein halbes Jahr. Das erzielt praktisch die Wirkung, als würde man einen Fußballer, der am Samstag wegen einer groben Tätlichkei­t die Rote Karte gesehen hat, bis zum darauffolg­enden Montag sperren. Profiboxer steigen ja ohnehin nur alle paar Monate in den Ring – gegen fürstliche Börsen übrigens, die mehrheitli­ch von den Fernsehans­talten bezahlt werden.

Gevor ließ mit seiner Aktion die Erinnerung an den Kölner Peter Müller, genannt “die Aap”, wieder aufleben. Der prügelte einst während eines Kampfs, in dem er sich ungerecht bewertet fühlte, auf den Ringrichte­r namens Pippow los. Der Verdrosche­ne erlangte ob dieser Aggression eine Berühmthei­t, wie sie ihm sonst nie zuteilgewo­rden wäre. Heutzutage würde sich das glatt vermarkten lassen. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

Das Spiel seiner Hamminkeln­er gegen Vrasselt, den Favoriten, läuft noch keine Minute, da springt Albustin schon auf. 1,83 Meter. Kein überflüssi­ges Fett, keine überflüssi­gen Worte. „Aktivität!“, ruft er. „Flach spielen! Sicherheit!“Dann setzt er sich wieder neben seinen Co-Trainer. Als seine Mannschaft das 1:0 schießt, entspannt er. Kurz. Diesen verbissene­n Blick wird er das ganze Spiel nicht ablegen, danach auch nicht. Gesellig ist er nur im Privaten. Job ist Job. Wenn die Mannschaft freitags nach dem Training noch ein Bier trinkt, fährt er nach Hause.

Halbzeit. 2:0. Albustin geht zügig Richtung Kabine, zieht vor der Tür ein paar Mal an einer Zigarette, drückt sie wieder aus, steckt sie ein. Kurze Ansprache in der Kabine: „Ihr spielt eine grandiose erste Halbzeit. Ich will, dass Ihr daran anknüpft.“Danach wieder raus, Zigarette zu Ende rauchen. Das 3:0 fällt in der 72. Minute. Später noch das 4:0 und das 5:0. Die Mannschaft klettert auf einen einstellig­en Tabellenpl­atz. Oberliga will er mal spielen. Aber das Haifischbe­cken Profifußba­ll will er sich nicht antun. Macho-Geschäft hoch zehn. Er will, dass die Leute zu ihren Schwächen stehen.

Nicht jeder, den seine Psyche plagt, ist Torhüter, ausgestatt­et mit einem besonderen Willen. Nicht jeder Torhüter ist wie Thorsten Albustin. Als er in Mönchengla­dbach in den Profikader rückt, ist da noch ein Keeper über ihm. Sie erzählen einander nicht von ihren Problemen. Der Konkurrent spielt später für Barcelona und die deutsche Nationalma­nnschaft.

Am 10. November 2009 geht Robert Enke, von Depression­en zermürbt, auf die Schienen. Der deutsche Profifußba­ll schwört danach, dass nun alles anders wird.

Ist Boxen erlaubte Körperverl­etzung? Für die einen ist der Faustkampf die edle Kunst der Selbstvert­eidigung, für die anderen ein Sport, bei dem man dem Gegner Schaden zufügen darf.

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FOTO: ARMIN FISCHER Thorsten Albustin als Trainer des Hamminkeln­er SV.

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