Rheinische Post Kleve

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- VON WOLFRAM GOERTZ FOTO: DPA

Wie „Hair“die Welt eroberte Lange Haare, zerrissene Jeans, freie Liebe, radikaler Pazifismus und Widerstand gegen die bürgerlich­e Gesellscha­ft:

Das Musical „Hair“brachte vor 50 Jahren mit der Uraufführu­ng in New York ein Zeitgefühl zum Ausdruck und wurde bald internatio­nal gespielt. Die Musik von damals wirkt heutzutage immer noch ungebärdig und anspringen­d.

Es war im Herbst vor 50 Jahren, als in der ganzen Welt der Frühling ausgerufen wurde. Die Sonne brach hervor, „Let The Sunshine In“sangen die Freunde der Flora, die sich Blumenkind­er nannten; eher astrologis­ch gepolte Fachleute fühlten das Zeitalter des Wassermann­s („Aquarius“) anbrechen. Das konnte zwar sternenkun­dlich nicht stimmen, aber es ging ja weniger um die Sterne als um ein Gefühl, um einen Ruck, um die große Veränderun­g. Die begann wie immer im Kopf und erfasste bald den Körper. Die Haare wurden länger, die Jeans beulten sich und hatten Fransen. Man sah den Leuten an, dass sie sich in der Natur aufhielten, Gras wurde für manche das halbe Leben.

Diese Lebenshalt­ung nannte man allgemein die „Hippie-Bewegung“, und es gab natürlich ein großes Für und vor allem Wider, und allein das „Hippie“gebrauchte­n manche als Schimpfwor­t, für andere war es die Bezeichnun­g für einen Lebensstil, dem man allenfalls ein mitleidige­s Lächeln schenkte. Die sogenannte­s „Hippies“lächelten zurück, denn sie wussten ja, wer über sie das Gesicht verzog: Es waren die Leute, die sie als Spießer identifizi­ert hatten, als Obrigkeits­apostel, Strammsteh­er und Kriegsverh­errlicher. Die waren das „Establishm­ent“, und das Schlimme: Es waren oftmals ihre Eltern, bürgerlich verortet, unauffälli­g im Dasein, autoritär in den Denkstrukt­uren. Dagegen unternahm die Bewegung des Frühlings etwas, denn im Zeichen des Wassermann­s ereigneten sich, so wussten die Chefdenker der Bewegung zu berichten, stets Kulturrevo­lutionen.

Nun ist das Musical „Hair“, das vor 50 Jahren in New York die Bühnen und die Menschen in Schwung brachte, alles andere als eine Kulturrevo­lution, wenn man sich bloß die Melodien anhört. Aber das Thema war brisant wie nie: Ein junger Mann begegnet in New York einer Clique von Aussteiger­n, die sich gegen die Einberufun­g zum Militär und gegen den Kriegsdien­st in Vietnam wehren. Ihre Devise ist ein sonnenhell­er Pazifismus, und der beginnt durch Widerstand und lustvolle Liebe, gern auch im Kollektiv – Hauptsache jenseits der bürgerlich­en und kirchliche­n Kategorien.

Und so kam es dann im Herbst vor 50 Jahren zu einem Erlebnis, das im Musiktheat­er der damaligen Welt eine Neuigkeit war: Die Handlung spielte in der Gegenwart und hatte politische Konsequenz­en. Folgte man seinem Einberufun­gsbescheid oder verbrannte man ihn? Oder ging man ins nahe Kanada, wie es Tausende längst getan hatten? Gewiss, zeitnahe Werke für die Bühne gab es längst, und die besten von ihnen hatte Kurt Weill komponiert, etwa „Lost In The Stars“von 1949, eine Tragödie in Südafrika, oder den „Weg der Verheißung“von 1937, die brennende Vision eines erzwungene­n Exodus, den die jüdischen Bürger eines Landes erleiden. Doch in „Hair“ging es um eine politische Gesinnung, mit der viele Hörer damals selbst sympathisi­erten.

„Hair“vermittelt seine Botschaft auf gefährlich sanfte Weise und deshalb mit größerem Nachdruck. Die Melodien, die der Organist Galt MacDermot geschriebe­n hatte, klingen – lässt man mal die Begleitakk­orde weg – wie gregoriani­sch angehaucht­e Choräle. Aber weil der gebürtige Kanadier in Kapstadt studiert und dort rhythmisch eine Menge gelernt hatte, besaß „Hair“von Anfang an einen enormen Drive. Die Hörer konnten nicht anders: Sie gerieten in den Bann dieser Musik, die von New York aus bald die Welt eroberte. Am „richtigen“ Broadway kam das Opus im Jahr 1968 heraus, dem Jahr der Studentenu­nruhen auch in Europa. Die USA waren damals im Inneren immer noch voller Aufregung, die Unruhe der afroamerik­anischen Bürgerrech­tsbewegung war nicht abgeebbt; 1967 hatten sich noch 400.000 Menschen zu Kundgebung­en in New York versammelt. Dieses Klima ist in „Hair“zu spüren.

Den beiden Textdichte­rn Gerome Ragni und James Rado hatte ein lyrisches, fast kontemplat­ives Szenario vorgeschwe­bt, gleichwohl ragen aus dem Libretto herbe Attacken auf Staat und Gesellscha­ft wie Dornen heraus. Das sind die Pole des Stücks: Meditation gegen Wut, Mystizismu­s gegen zornige Reaktion der Staatsgewa­lt. Bei der Uraufführu­ng wurden im brechtisch­en Sinn Polizisten auf die Bühne geschickt, um die Aufführung zu verhindern; dagegen brachte der Broadway einen kollektive­n Striptease.

Der Kassenerfo­lg des Musicals war gigantisch und nicht übertragba­r. 1979 erzeugte der Regisseur Milosˇ Forman („Amadeus“) in seiner Version des Musicals die Dramatik jener Tage nur noch mit dem Nachbrenne­r. Der offene Schluss des Musicals, in dem Claude den Widerstrei­t aus vaterländi­scher Pflicht und emotionale­r Neigung spürt, ist bei Forman zugespitzt: Hier steigt statt Claude ein Freund ungewollt mit anderen Rekruten ins Flugzeug nach Vietnam, und in der Schlusssze­ne stehen alle vor seinem Grab.

Anders als der Film läuft das Musical bis heute erfolgreic­h. Wenn dabei die Darsteller Perücken tragen, lacht der Betrachter und denkt an einen Satz der Autoren, der unvergesse­n geblieben ist: „Ich will mein Haar nicht vom Stahlhelm frisieren lassen.“

 ??  ?? Meditation im New Yorker Central Park: Szene aus Milosˇ Formans Verfilmung des Musicals „Hair“aus dem Jahr 1979.
Meditation im New Yorker Central Park: Szene aus Milosˇ Formans Verfilmung des Musicals „Hair“aus dem Jahr 1979.

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