Rheinische Post Kleve

Zur Insel der verstümmel­ten Puppen

- VON FLORIAN SANKTJOHAN­SER

Wer sehen will, wie die Menschen in Mexiko-Stadt das Wochenende verbringen, muss nach Xochimilco fahren. In der Oase aus Kanälen und künstliche­n Inseln steigt dann ein Volksfest.

Afterhour geht in Mexiko-Stadt so: Wenn die Clubs um 3 Uhr morgens schließen, fährt man über die dreistöcki­ge Stadtautob­ahn nach Xochimilco, klingelt an der Anlegestel­le den Nachtwärte­r heraus, und der ruft einen Kapitän an. Und schon geht die Party auf dem Boot weiter.

Jetzt ist es 9 Uhr morgens, und von der Partymeute ist nichts zu sehen. In langen Reihen dümpeln die Trajineras im Hafenbecke­n. Die berühmten Gondeln Xochimilco­s sind rot, gelb, grün angestrich­en. An manchen leuchten noch wie früher Schriftzüg­e aus Blumen. „Als ich ein Mädchen war, sahen alle Trajineras so aus“, sagt die Stadtführe­rin Mirta Martinez. „Später wurden die Blumen zuerst durch Papier ersetzt, dann durch Holz.“

Insgesamt 1500 bis 1600 Trajineras gondeln heute durch die Kanäle von Xochimilco. Und am Heck stehen Männer wie César Serrano. Mit einer sechs Meter langen Stange stakt er das Boot vorwärts. „Die einzigen, die hier einen Motor haben dürfen, sind die Polizeiboo­te“, sagt er.

Xochimilco bedeutet auf Nahuatl, der Sprache der Azteken, „Blumenfeld“. Das stimmt immer noch ein bisschen, auch wenn der Moloch längst die Kanäle und Gärten geschluckt hat, die gemeinsam mit der kolonialen Innenstadt und den Aztekentem­peln als Weltkultur­erbe geschützt sind.

Die Kanäle sind der kümmerlich­e Rest der fünf Seen, die einst zusammen ein Binnenmeer bildeten. „Die Menschen lebten schon 7000 vor Christus an den Ufern dieser Seen“, erzählt Martinez. Erst viel später kamen die Azteken hier an. 1325 gründeten sie auf einem Inselchen im TexcocoSee ihre Hauptstadt Tenochtitl­án.

Bald wurde es eng, die Azteken brauchten mehr Land, um Tomaten, Mais und Süßkartoff­eln anzubauen. Die geniale Lösung ihres Problems kann man vom Boot aus besichtige­n: die Chinampas, oft schwimmend­e Gärten genannt. Längst sind die menschenge­machten Inseln aber mit dem Seegrund verwachsen, Holzpflöck­e und Mauern aus Sandsäcken halten ihre Ufer.

Noch im vergangene­n Jahrhunder­t konnte man mit dem Dampfschif­f von hier in die Innenstadt von Mexiko-Stadt fahren. Aber von 1000 Kilometern Kanälen sind nur 188 Kilometer geblieben. Sie sind nur noch wenige Meter tief, und der Grundwasse­rspiegel sinkt weiter. Die Unesco stuft das Welterbe deshalb als „hoch gefährdet“ein. Damit die Kanäle nicht weiter verlanden, werden sie regelmäßig ausgebagge­rt.

Nach einer knappen Stunde biegt Serrano in den größten Kanal Apatlaco ein, drei weiße Enten folgen schnattern­d. Das Boot gleitet durch bunt zusammenge­schusterte Schrebergä­rten, die auch in Berlin an der Spree stehen könnten.

Die Gondel gleitet weiter durch eine Allee von überhängen­den Ahuejotes. In Treibhäuse­rn aus Plastikpla­nen leuchten Felder von Weihnachts­sternen, Blesshühne­r dümpeln vor haushohem Schilf. Eine friedliche Idylle. Bis ein Inselchen in Sicht kommt, das mit einer Palisade eingezäunt ist. Schäbige Puppen hängen am Tor und in den Ästen, manche verstümmel­t oder mit verrenkten Gliedern. „Das ist die Isla de las Muñecas“, sagt Serrano.

Sie war die Insel eines Eigenbrötl­ers, Don Julian. Er baute hier Gemüse an, fischte und jagte. Die Insel verließ er nur ein oder zwei Mal im Jahr. Eines Tages in den 1950er Jahren kenterte eine Trajinera mit 20 Mädchen, zwei ertranken. Und nach einer Woche lag eine Leiche auf Don Julians Chinampa. Ab diesem Tag fand er angetriebe­ne Puppen. Und er fühlte sich beobachtet, vor allem nachts. Vom Geist des toten Mädchens.

Don Julian entschied sich, die Puppen aufzuhänge­n. Der Geist verschwand, dafür kamen immer mehr Besucher. Sie brachten eigene Puppen mit, und Don Julian hängte sie zu den anderen.

 ?? FOTO: FLORIAN SANKTJOHAN­SER ?? César Serrano stakt das Boot vorwärts. Motoren dürfen hier nur die Polizeiboo­te haben.
FOTO: FLORIAN SANKTJOHAN­SER César Serrano stakt das Boot vorwärts. Motoren dürfen hier nur die Polizeiboo­te haben.

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