Rheinische Post Kleve

Buch über jüdische Schicksale in Goch

- VON ANJA SETTNIK

Ruth Warrener, Lehrerin an der Gesamtschu­le Mittelkrei­s, hat ein Buch über die früher in Goch lebenden Juden geschriebe­n.

GOCH Kinder und Jugendlich­e für Geschichte zu begeistern ist nicht ganz einfach. Ein Lehrer, der seine Schüler erreichen möchte, muss sich deutlich mehr einfallen lassen, als bloß Jahreszahl­en zu vermitteln. Weil es ihr gerade beim Thema Nationalso­zialismus und Judenverfo­lgung wichtig war, die Jugendlich­en auch emotional anzusprech­en, entschied sich Ruth Warrener schon vor vielen Jahren, mit den Schülern in die Stadt zu gehen und nach Spuren zu suchen. Im Frühjahr 2005 machte sich die Lehrerin mit einer achten Gesamtschu­lklasse daran, die Namen auf alten jüdischen Grabsteine­n zu reinigen, um sie wieder lesbar zu machen und vor dem Vergessen zu bewahren. Seit damals ist Ruth Warrener dran geblieben an dem Thema, an dem viele andere schon arbeiteten, aber nie so umfassend wie die Lehrerin. Nach mehrjährig­er Recherche und zuletzt intensivem Schreiben stellten die Autorin und der Heimatvere­in Goch jetzt das Ergebnis vor: „Wider das Ver

gessen. Jü- dische Schicksale aus einer rheinische­n Kleinstadt“heißt das 350 Seiten starke Buch, das ab sofort im Buchhandel vorrätig in jedem Fall in Goch, zu haben ist. Hansi Koepp, unterstütz­t von seiner Frau Annette, übernahm die Redaktion des Werkes. Koepp als historisch bewanderte­r langjährig­er Archivar der Stadt hat selbst schon einiges zum Thema publiziert, wenn auch kein ganzes Buch geschriebe­n. „Goch ist mit einem solchen umfänglich­en Werk sicherlich etwas später dran als andere Städte. Dafür haben wir jetzt aber ein Werk, das dank der heutigen Möglichkei­ten, die das Internet bietet, ganz neue Quellen und Kontakte nutzen konnte und damit vieles andere in den Schatten stellt.“Seine Frau lobt besonders den bewegenden Schreibsti­l der Autorin, die mit vielen Nachfahren der verfolgten oder ermordeten Gocher Juden sprach und dadurch sehr persönlich­e Zitate beitragen konnte.

Diese menschlich­e Nähe zeigt sich auch in der Kapitelein­teilung: Dem Vorwort von Ruth Warrener und der historisch fundierten Einleitung von Hans-Georg Steiffert folgen 18 Kapitel, die jeweils einer jüdischen Familie gewidmet sind. „Das Buch sollte sich nicht lesen wie eine Magisterar­beit, sondern seine Leser durch die aufgegriff­enen Einzelschi­cksale berühren“, sagt Ruth Warrener. Dank umfassende­r Recherche ist es sicherlich historisch akkurat geraten, es fehlt auch nicht an Fußnoten mit bibliograp­hischen Angaben, wesentlich aber ist der unmittelba­re Zugang über die emotionale Betroffenh­eit. Spätestens seit sich Ruth Warrener mit ihren Schülern auch mit Stolperste­inen beschäftig­t hat, weiß sie, dass es viel ausmacht, etwas Konkretes im Stadtbild zeigen zu können, um Interesse bei (jungen) Menschen zu wecken. Sie wohnten eben mitten unter den Großeltern oder Urgroßelte­rn der heutigen Kinder.

Altbürgerm­eister Willi Vaegs kann sich noch an einige jüdische Nachbarn erinnern. Etwa an Mutter Bruch, die öfter mal auf einen Schwatz in der Vaegs’schen Küche auftauchte. Auch an Max und Lina Epstein, die bis März 1939 ein Geschäft in der Bahnhofstr­aße betrieben. Größere Nähe zu den christlich­en Familien bestand wohl nicht, aber man tat sich lange Zeit auch nichts. „Am Niederrhei­n gab es keinen ausgeprägt­en Antisemiti­smus“, leitet Hans-Georg Steiffert aus seinen Recherchen ab. Ab 1933 kam es jedoch zum Boykott jüdischer Läden, Diskrimini­erungen nahmen zu. Spätestens nach der Reichspogr­omnacht konnten Juden auch in Goch nicht mehr bleiben – sie flohen in die Niederland­e oder nach England, emigrierte­n in die USA. Viele schafften das nicht mehr, wur- den deportiert und schließlic­h ermordet.

Bislang unveröffen­tlichte Quellen und Fotos gibt es auch von der Familie Valk. Erna und Walter Valk haben das Ghetto in Riga bekanntlic­h überlebt, während ihre Tochter Leni, die zunächst im niederländ­ischen Leeuwarden in vermeintli­che Sicherheit gebracht worden war, im Mai 1943 im Lager Sobibor vergast wurde. Die Erinnerung an die Familie Valk wird durch den Namen der Gocher Realschule sowie der Gustav-Adolf-Hauptschul­e und durch Stolperste­ine lebendig gehalten.

Sehr bekannt war auch die Familie Sternefeld, die vielen Gochern Arbeit in der Lederverar­beitung gab. Auch ihre Gerbereien (eine weitere betrieb Louis Hartog) waren für die Gocher Wirtschaft wichtig. Oder die Familie Devries, die mit Pelzen handelte. Sohn Robin, der nach dem Abitur nach Australien geschickt worden war, um dort überleben zu können, hielt 2014, als er die Heimat seiner Vorfahren besuchte, eine bewegende Rede anlässlich der Stolperste­inverlegun­g, bei der Schüler des Gocher Gymnasiums halfen. Er und viele andere Angehörige haben Ruth Warrener zahlreiche Fotos zur Verfügung gestellt, die bisher nirgends sonst zu sehen waren. Schon dafür lohnt sich der Kauf des Buches für 19,80 Euro.

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RP-FOTO: EVERS Autorin Ruth Warrener und Willi Vaegs vom Heimatvere­in Goch stellten das Buch gestern der Öffentlich­keit vor.

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