Rheinische Post Kleve

Mit Neuwahlen spielt man nicht

- VON MICHAEL BRÖCKER

Jamaika bleibt eine Insel in der Karibik. Eine Regierung in Berlin wird dieses Vierer-Bündnis nach dem in Art und Form ungewöhnli­chen Scheitern auf absehbare Zeit nicht mehr. Wer ist der Schuldige? Diesen Titel hat FDP-Chef Christian Lindner öffentlich für sich reklamiert. Seine Erklärung in der Nacht zu Montag war vorbereite­t, der Sprechzett­el lässt dies vermuten – er wollte das Ende der Verhandlun­gen.

Christian Lindner sagt, das Vertrauen habe gefehlt. Wer die Gespräche verfolgt hat, muss dem zustimmen. Durchstech­ereien, Sticheleie­n, Missmut. Es war ein Auf und Ab der Eitelkeite­n und Emotionen. Aber ist es das nicht immer bei Koalitions­verhandlun­gen? Jamaika war auch nie ein Wunschmode­ll, sondern ein komplizier­tes Zweckbündn­is früherer Gegner. Es war nach der Bundestags­wahl und der (breit kritisiert­en) Absage der SPD aber die einzig denkbare Konstellat­ion. Das wussten die Liberalen. Deutschlan­d braucht Führung. Europa braucht eine handlungsf­ähige Bundesregi­erung. Hier ging es um mehr als Befindlich­keiten. Die Wähler haben bei der Bundestags­wahl die Grünen und die FDP gestärkt, nicht SPD und Union. Sie wollten, dass die beiden kleinen Parteien mehr Einfluss haben und, ja, auch mehr Verantwort­ung übernehmen. Die FDP hat diese Verantwort­ung nun von sich gewiesen.

Eine Rolle dürfte bei Christian Lindner das Trauma gespielt haben, das der FDP seit 1961 und verstärkt seit der Westerwell­e-Ära schlaflose Nächte bereitet. Damals verhalf die FDP der Adenauer-CDU zur Macht, obwohl man dies im Vorfeld der Bundestags­wahl abgelehnt hatte. Später zeigte sich die Westerwell­e-FDP inhaltlich geschmeidi­g. Eine Partei, die nur auf Posten und Positionen schielt. Eine Partei, die Prinzipien verrät, wenn sie die Insignien der Macht vor Augen hat. Das war das Image. In dem Verhandlun­gsabbruch sah der FDP-Chef nun die Gelegenhei­t, diesen Vorwurf loszuwerde­n. Aber zu welchem Preis? Rechtferti­gt das legitime Parteiinte­resse eine Regierungs­krise? Wohl kaum. ätte die FDP nicht wenigstens versuchen müssen, in der Regierung liberale Politik umzusetzen? Manch ein Anhänger sieht das so. Das britische Magazin „The Economist“nennt Lindners Entscheidu­ng „zweifelhaf­t“. Das Konsenspap­ier der Jamaika-Unterhändl­er beinhaltet­e ja wichtige Reformen, die auch eine liberale Handschrif­t trugen. Der Abbau des Soli war vorgesehen. Etwas später, ja. Aber immerhin. Eine große Koalition oder Schwarz-Grün würde den Soli umwidmen und den Bürgern die überfällig­e Entlastung gänzlich verweigern. Die Bildungsof­fensive, die Ideen für eine Digitalisi­erung von Ämtern und Schulen, der Ausbau des Glasfasern­etzes, die marktwirts­chaftliche­n Elemente in der Energiepol­itik, die Hilfen für Kommunen. All das war verhandelt. Ist das nichts? Natürlich ist es ärgerlich, dass die Abschaffun­g des Kooperatio­nsverbots in der Bildung immer noch an schwarz-grünen Ministerpr­äsidenten scheitert. Aber Politik ist die Kunst des Möglichen. Lindners FDP hat elf Prozent geholt, nicht 51. Auch in der Migrations­frage wurde viel Ordnendes vereinbart, die De-facto-Obergrenze, die sicheren Herkunftss­taaten. Das wollten auch Liberale.

„Nichtstun ist Machtmissb­rauch“, hatte die FDP im NRW-Landtagswa­hlkampf angesichts der Tatenlosig­keit der SPD-Regierung (zu Recht) plakatiert. Nun wollen die Liberalen selbst nicht mittun. Sie setzen sich lächelnd auf die Zuschauerb­ank. Da sitzt aber schon die SPD, stur und schmollend. Ihre unverantwo­rtliche Verweigeru­ngshaltung hat die SPD gestern dreisterwe­ise noch mal kurz vor der Pressekonf­erenz des Bundespräs­identen kundgetan. Ob die SPD und die FDP bei Neuwahlen von dieser Haltung profitiere­n, darf bezweifelt werden.

Der Bundespräs­ident hat es nicht so plakativ gesagt. Aber gemeint hat er gestern dies: Man kann das Wählervotu­m nicht einfach zurückgebe­n wie einen verfaulten Apfel beim Obstbauern. So funktionie­rt Demokratie nicht. Mit Neuwahlen spielt man nicht. Schwere Tage für ein Land, das mal Stabilität­sanker in einem verunsiche­rten Europa war.

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