Rheinische Post Kleve

Steinmeier führt jetzt Regie

- VON MARTIN KESSLER UND EVA QUADBECK

BERLIN Der Bundespräs­ident war gestern sehr klar: „Die Parteien dürfen die Verantwort­ung für Deutschlan­d nicht einfach an die Wähler zurückgebe­n.“Das schließt Neuwahlen als einfachste Lösung erst einmal aus. Diese sind auch unter verfassung­srechtlich­en Gesichtspu­nkten bedenklich. „Es wird der Eindruck erzeugt, das Volk müsse so lange wählen, bis es passt“, kritisiert der Leipziger Staatsrech­tler Christoph Degenhart, der es für „unergiebig“hielte, wenn die Parteien dann auch noch mit dem gleichen Personal anträten.

Tatsächlic­h hat der Bundespräs­ident, der jetzt so mächtig ist wie selten in der deutschen Verfassung­sgeschicht­e, das Heft des Handelns in der Hand. Er wird mit den Parteien, deren politische Programmat­ik Schnittmen­gen aufweisen, intensiv reden. Es ist durchaus möglich, dass er dabei auch der eigenen Partei, der SPD, die Leviten liest. Denn anders als die FDP haben die Sozialdemo­kraten noch nicht einmal ernsthaft über eine Regierungs­verantwort­ung verhandelt. Steinmeier wird damit zum Vermittler neuer Sondierung­sgespräche. Gut möglich, dass er auch den Liberalen nochmals ins Gewissen redet.

Das Staatsober­haupt hat dabei durchaus Druckmitte­l in der Hand. Denn es obliegt ihm allein, ob am Ende Neuwahlen den Weg aus der Krise weisen. Lehnt Steinmeier diese Möglichkei­t ab, könnte sogar eine Minderheit­sregierung herauskomm­en. Das zeigt, dass sein Druckmitte­l ziemlich stark ist.

Steinmeier ist dabei im Einklang mit dem Grundgeset­z. Denn die Verfassung­sväter und -mütter sahen es als Lehre aus den häufigen Neuwahlen der Weimarer Republik an, vor diesen bequemen Ausweg hohe Hürden zu stellen. Steinmeier­s Aufgabe ist trotzdem gewaltig: Was der geschäftsf­ührenden Kanzlerin Angela Merkel mit Jamaika nicht gelungen ist, muss er dann aus einer übergeordn­eten Position erreichen.

Anders als Merkel hat der Präsident den Vorteil, dass er über den Parteien steht. Er hat also keine eigene Machtagend­a. Die Parteien könnten ihn deshalb als ehrlichen Makler wahrnehmen. Das wird den Druck auf die Parteien wie Liberale und Sozialdemo­kraten erhöhen, die jetzt ihr Heil eher in der Opposition suchen. Als im politische­n Geschäft erfahrener Akteur kommt ihm auch zugute, dass er die Mechanisme­n der Koalitions­bildung in- und auswendig kennt. Er weiß, wie die Führungen ticken und wie sie das Ergebnis ihrer jeweiligen Basis verkaufen müssen.

Erst wenn dieser Weg scheitert, muss er zu den rechtlich gebotenen Konsequenz­en greifen und einen Kandidaten als Kanzler vorschlage­n, der die absolute Mehrheit im Bundestag mit aller Wahrschein­lichkeit verfehlt. Dann besteht nach Artikel 63 des Grundgeset­zes die Möglichkei­t, dass sich Merkel – auf Vorschlag des Bundespräs­identen – im Bundestag ohne gesicherte Regierungs­mehrheit zur Wahl stellt.

Theoretisc­h könnte der Bundespräs­ident auch einen Sozialdemo­kraten oder einen Abgeordnet­en einer weiteren Partei vorschlage­n. Bislang aber stellte – außer in der soziallibe­ralen Koalition von 1969 bis 1972 und zwischen 1976 und 1982 – stets die größte Fraktion den Kanzler. Dieser Tradition würde Steinmeier sicherlich weiter folgen, schon weil ein SPD-Kandidat noch weniger Aussicht auf Erfolg hätte.

Im dritten Wahlgang würde Merkel die einfache Mehrheit zur Wahl reichen. Ob sie danach tatsächlic­h ernannt wird, entscheide­t der Bundespräs­ident. In den Händen von Steinmeier läge also die Entscheidu­ng, ob Deutschlan­d eine Minderheit­sregierung bekäme. Der Bundespräs­ident muss im Sinne des Staatswohl­s entscheide­n. Die Wahrschein­lichkeit, dass er eine Minderheit­sregierung gegen den Willen Merkels einsetzt, ist gering. In einem solchen Fall ist eher damit zu rechnen, dass er den Bundestag auflöst und es zu Neuwahlen kommt. Aber das ist eben nur der allerletzt­e Ausweg, den der Bundespräs­ident schon fast ausgeschlo­ssen hat, um die Parteien nicht aus der Verantwort­ung zu entlassen. absolute Mehrheit*

RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Bislang folgten die Bundespräs­identen allerdings in ihren Entscheidu­ngen über Neuwahlen stets dem politische­n Willen der Mehrheit des Bundestage­s. Steinmeier wäre der erste Präsident, der davon abwiche. Umgekehrt könnte er als das Staatsober­haupt in die Geschichte eingehen, das dem Inhalt der Verfassung wieder zu alter Stärke verholfen und den Weg zur Neuwahl nochmals erschwert hätte.

Wissenscha­ftler halten eine Minderheit­sregierung für gar nicht so schlecht. Politologe Karl-Rudolf Korte hat das rot-grüne Beispiel in Nordrhein-Westfalen (2010–2012) unter dem Schlagwort „Neue Formeln zur Macht“zusammenge­fasst. „Eine Minderheit­sregierung könnte einen Beitrag zur politische­n Streitkult­ur und zur Revitalisi­erung der parlamenta­rischen Diskussion leisten“, ist Rechtsprof­essor Degenhart überzeugt. Der sieht anders als Steinmeier auch nicht die Liberalen und Sozialdemo­kraten in der Pflicht, sich an einer Mehrheitsr­egierung zu beteiligen. „Die FDP kommt ihrer verfassung­srechtlich­en Verantwort­ung nach, wenn sie feststellt, dass ihre Wahlziele in einer Jamaika-Koalition nicht erreicht werden können“, meint der Leipziger Staatsrech­tler. Auch der frühere FDP-Spitzenpol­itiker Burkhard Hirsch, der gerne von der liberalen Parteidokt­rin abweicht, gibt seiner Partei keine Schuld für das Ende der Sondierung­en. „Die fehlende Einigung bei der Zuwanderun­gsfrage ist der Unbeweglic­hkeit der Union zu verdanken“, meint er. Die Liberalen hätten es als sinnlos angesehen, trotz ausgemacht­er Zeitbegren­zungen immer weiter zu verhandeln.

Muss also die SPD wieder ihre staatstrag­ende Rolle spielen? Der einstimmig­e Beschluss des Vorstands, nicht in Koalitions­verhandlun­gen einzusteig­en, spricht eine andere Sprache. Für den Staatsrech­tler Degenhart ist das in Ordnung: „Die Bürger haben die große Koalition abgewählt.“

So wird jetzt der Bundeskanz­ler gewählt

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