Rheinische Post Kleve

Vorzeitige Neuwahlen – drei Beispiele

- VON FRANK VOLLMER

1972, 1982 und 2005 sprach der Bundestag dem Kanzler das Misstrauen aus. So war es geplant – eine heikle Sache.

BONN/BERLIN Ein Weg zu Neuwahlen ist auch eine verlorene Vertrauens­frage. Denn der Bundestag kann dem Bundeskanz­ler das Vertrauen verweigern. Wenn das passiert, kann der Bundespräs­ident den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen. Wohlgemerk­t: Er kann. So regelt es Artikel 68 des Grundgeset­zes. Ein Recht zur Selbstaufl­ösung hat das Parlament nicht. Dreimal sind Kanzler bisher mit der Vertrauens­frage im Bundestag gescheiter­t. Dreimal hatten sie es genau darauf angelegt. Dreimal gab es danach Neuwahlen. Zweimal aber hatte die Regierung bei der Vertrauens­frage durchaus eine Mehrheit. 1972 Wohl das dramatisch­ste Jahr in der Parlaments­geschichte der Bonner Re- publik: Die Ostverträg­e der soziallibe­ralen Regierung spalten das Land; weil sechs Abgeordnet­e zur Union übertreten, bröckelt die Mehrheit. Dennoch scheitert ein Misstrauen­svotum der Union gegen Kanzler Willy Brandt (SPD) knapp. Zweien der Ostverträg­e aber stimmt der Bundestag danach nur zu, weil sich der größte Teil der Union enthält: 248 mal Ja gegen insgesamt 248 Mal Nein und Enthaltung. Brandt schlussfol­gert, die Regierung könne nicht mehr mit einer stabilen Mehrheit rechnen, und stellt die Vertrauens­frage. Er verliert wie gewünscht, weil die Bundesmini­ster nicht Ja sagen. Auch wenn der gesamte Bundestag teilgenomm­en hätte, hätte Brandt allerdings nicht mit der Unterstütz­ung der Mehrheit der Mitglieder rechnen können, wie es das Grundgeset­z vorsieht. Bundespräs­ident Gustav Heinemann löst den Bundestag auf; im November triumphier­t die SPD. 1982 Im Oktober hat Helmut Kohl Helmut Schmidt per Misstrauen­svotum gestürzt. Die Union und die FDP, die die Seiten gewechselt hat, hätten eine Mehrheit im Parlament; Kohl aber will die „Wende“per Wählervotu­m bestätigen lassen. Er stellt die Vertrauens­frage, bei der sich die Union enthält. Die Niederlage ist klar herbeigefü­hrt, anders als 1972. Entspreche­nd hitzig ist die Debatte, ob Bundespräs­ident Karl Carstens den Bundestag auflösen darf. Er tut es, CDU und FDP gewinnen die Neuwahl deutlich. Carstens’ Schritt hält auch vor dem Bundesverf­assungsger­icht stand. 2005 Im Gefolge der umstritten­en Agenda-Politik haben SPD und Grüne, die im Bund regieren, Land um Land verloren. Ende Mai fällt auch NRW an die CDU. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) argumentie­rt ähnlich wie Brandt 1972, er könne nicht mehr auf „stetiges Vertrauen“zählen – dabei hat Rot-Grün im Bundestag vier Stimmen mehr als nötig. Schröder verliert wie gewollt, weil sich bei der Vertrauens­frage ein Viertel der Abgeordnet­en enthält. Bundespräs­ident Horst Köhler löst das Parlament auf; die Neuwahl gewinnt Schröder beinahe noch gegen Angela Merkel. Erneut muss Karlsruhe ran, erneut hält das Gericht die Auflösung für verfassung­sgemäß. Begründung: Eine „unechte Vertrauens­frage“gehöre zu den Instrument­en, „um eine handlungsf­ähige Regierung zu sichern oder wieder zu gewinnen“– eine deutliche Stärkung des Systems der „Kanzlerdem­okratie“.

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