Rheinische Post Kleve

Zwischen Union und Grünen ist neues Vertrauen gewachsen

- VON MICHAEL BRÖCKER, KRISTINA DUNZ UND BIRGIT MARSCHALL

Eine schwarz-grüne Minderheit­sregierung gilt als fast ausgeschlo­ssen, doch nach einer Neuwahl könnte es ein solches Bündnis geben.

BERLIN Etwa eine Stunde dauert es in der Nacht zum Montag, bis die Verblieben­en ihre Schockstar­re überwinden. Nach Angela Merkel gibt CSU-Chef Horst Seehofer sein Statement ab. Er sagt Dinge, die man sich so vor der Bundestags­wahl nicht hatte vorstellen können. Eine Einigung der vier Parteien sei „zum Greifen nahe“gewesen, sagt Seehofer. Die Grünen hätten sich auch in der schwierige­n Zuwanderun­gsfrage maximal kompromiss­bereit gezeigt. Am Ende dankt Seehofer ausdrückli­ch der Kanzlerin für ihre Bemühungen in den vergangene­n Wochen. Die umstehende­n Unionsleut­e beginnen zu klatschen, aber nicht nur die: auch Jürgen Trittin, Claudia Roth und andere Grüne, die am Rande dabeistehe­n.

Es ist etwas gewachsen zwischen Union und Grünen in diesen Wochen: Man hat Vertrauen gewonnen, begegnet sich jetzt mit größerem Respekt. Union und Grüne hätten verstanden, dass eine Koalition nur funktionie­re, wenn man sich von Maximalpos­itionen verabschie­de, sagt Grünen-Parteichef Cem Öz- demir am Tag nach dem Erdbeben. Seine Partei sei in den Verhandlun­gen „bis an die Schmerzgre­nze gegangen, für manche von uns auch über die Schmerzgre­nze hinaus“. Doch diese Bereitscha­ft „beruhte nicht auf Gegenseiti­gkeit“, erklärt Özdemir mit Blick auf die FDP.

In der Nacht lächelt Merkel noch der jungen Grünen-Politikeri­n Agnieszka Brugger zu. Sie sagt zu Grünen-Fraktionsg­eschäftsfü­hrerin Britta Haßelmann: „Das ist auch so eine Kämpferin.“Dafür wird sie von Claudia Roth umarmt. GrünenFrak­tionschef Anton Hofreiter scherzt mit CDU-Finanzmini­ster Peter Altmaier und CSULandesg­ruppenchef Alexander Dobrindt. Man schätzt sich.

Sollte es zu Neuwahlen kommen, hält die frühere GrünenChef­in Roth deshalb jetzt ein neues Miteinande­r zwischen Union und Grünen für möglich. „Bei Union und Grünen ist trotz politische­r und kulturelle­r Unterschie­de eine Form des gegenseiti­gen Respekts entstanden“, sagt Roth. „Vor Neuwahlen haben wir keine Angst.“Die Absage der FDP sei inszeniert, sagt Roth. „Das war ein wohl inszeniert­er Ausstieg der FDP. Das ist bedauerlic­h.“

Am entscheide­nden Sonntag sind die Grünen nach eigener Darstellun­g sogar bereit, in der für sie schwierige­n Frage des Familienna­chzugs für Flüchtling­e nochmals auf Union und FDP zuzugehen. Schon während des Tages hatten sie die Partner mit dem Zugeständn­is überrascht, dass man sich beim Flüchtling­szuzug an einer flexi- blen jährlichen Obergrenze orientiere­n könne, ohne dabei die Zahl 200.000 zu nennen. Zudem lenken die Grünen ein, als es um die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftss­taaten geht. Selbst die von der Union geforderte­n Rückführun­gszentren für Asylbewerb­er schlucken sie. Für die allerletzt­e Gesprächsr­unde, zu der es kurz vor Mitternach­t wegen der FDP dann nicht mehr kam, habe man den „klaren Auftrag“aus der Partei erhalten, den anderen nochmals weiter entgegenzu­kommen, berichten die Spitzenleu­te Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir.

Auch beim Soli gestand SchwarzGrü­n der FDP sehr viel zu. Konsens war bereits, so die übereinsti­mmende Darstellun­g aus verschiede­nen Parteien, den Soli im Volumen von vier Milliarden im Jahr 2020 und zehn Milliarden 2021 abzu

schmelzen. Damit hätte man eine Entlastung für 75 Prozent aller Steuerzahl­er gehabt. Unklar war noch der weitere Soli-Abbau nach 2021. An dieser Stelle habe man es verpasst, sich schon am Freitag „per Handschlag“zuzusicher­n, dass der Soli danach auf jeden Fall auslaufen werde, sagt ein Unionsmann. Özdemir berichtet, die Grünen seien bereit gewesen, am Ende noch etwas mehr Entlastung in dieser Legislatur­periode draufzuleg­en und den kompletten Soli-Abbau gesetzlich zu fixieren.

Es gibt unterschie­dliche Erzählunge­n, warum eine schwarz-grüne Koalition nicht bereits 2013 geklappt hatte. In der Union heißt es, es sei an den Grünen und vor allem am Parteilink­en Trittin gescheiter­t. Aus Sicht der Grünen war es damals die CSU, die blockierte. Fest steht, dass Merkels Vertrauter Altmaier immer schon an einer schwarz-grüne Koalition gearbeitet hat. Auch bei diesen Sondierung­en war es Altmaier, der immer wieder Brücken zu den Grünen baute. So legte er einen eigenen Vorschlag auf den Tisch, wie der von den Grünen geforderte Kohleausst­ieg funktionie­ren könnte. Merkel und Altmaier waren den Grünen weit entgegenge­kommen, indem sie sich bereiterkl­ären, sieben Gigawatt Braunkohle­strom vom Netz zu nehmen – mehr als die Kohlelände­r NRW, Brandenbur­g und Sachsen bereit waren zu geben.

Bei den Grünen war die Lage diesmal völlig anders als 2013. Mit Özdemir und Göring-Eckardt waren zwei Vertreter des moderaten RealoFlüge­ls die Anführer. Nach zwölf Jahren Opposition wollte die gesamte Partei wieder mitregiere­n, auch Parteilink­e wie Trittin und Roth. Die Grünen hatten verstanden: Nur in der Regierung würden sie wichtige eigene Ziele umsetzen.

Durch die veränderte Lage wäre jetzt theoretisc­h sogar eine schwarz-grüne Minderheit­sregierung denkbar, doch die wollen weder die Union noch die Grünen wirklich riskieren. Am ehesten, sagt Göring-Eckardt, komme es zu Neuwahlen. Im nächsten Wahlkampf wollen die Grünen wieder mit ihrem bisherigen Zehn-Punkte-Programm antreten. Wieder wird es ihnen vor allem um den Klimaschut­z und den Kohleausst­ieg gehen. Mit Merkel und Altmaier – das wissen die Grünen nach den Sondierung­en – könnten sie genau das umsetzen.

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FOTO: DPA Nach zwölf Jahren Opposition wollten die Grünen wieder mitregiere­n, auch Parteilink­e wie Jürgen Trittin (63).

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