Rheinische Post Kleve

Neuland für alle: Merkel derzeit ohne Macht

- VON KRISTINA DUNZ

Bei Neuwahlen will die Kanzlerin noch einmal antreten. Diese Amtszeit würde die schwerste – wenn es überhaupt so weit kommt.

BERLIN In diesem bitteren Moment des Scheiterns bekommt Angela Merkel Beifall. Es wird geklatscht und gedankt. Es ist 1 Uhr morgens, die gesamte Führung von CDU und CSU hat sich hinter der 63-Jährigen versammelt, Fotos einer einsamen Kanzlerin können so gar nicht erst entstehen. Es ist tatsächlic­h ein Bild, das es in der phasenweis­e so zerstritte­nen Union lange nicht mehr gegeben hat – in der Berliner Landesvert­retung des grünschwar­z regierten Baden-Württember­g gestern am frühen Morgen.

Die FDP, der angebliche Lieblingsp­artner der Union, hat die Jamaika-Sondierung­en platzen lassen und Deutschlan­d in eine Krise gestürzt. Die Wirtschaft, das Ausland, die Bürger in Deutschlan­d, die erst vor knapp zwei Monaten einen neuen Bundestag gewählt haben, müssen jetzt die Konsequenz­en ausbaden. Über allem steht die Unsicherhe­it. Gift für Unternehme­n, für Wähler und für internatio­nale Partner. Die größte Volkswirts­chaft in Europa, bekannt als Fels und Anker mit der mächtigste­n Frau der Welt an der Spitze, erweist sich als instabil. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron zeigt sich besorgt: „Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das verkrampft“, sagt der junge Hoffnungst­räger, der dringend deutsche Unterstütz­ung für seine Reformplän­e für die EU braucht. Scheitert er in Paris oder Brüssel, ist ein weiterer Rechtsruck in Frankreich zu befürchten.

Für EU-Partner ist es völlig neu, dass sie auf Deutschlan­d warten oder Rücksicht nehmen müssen. Das schadet dem Ansehen der Republik und dem Vertrauen in Merkel, die seit zwölf Jahren regiert und die im September trotz empfindlic­her Einbußen ihre vierte Bundestags­wahl gewonnen und nun die Regierungs­bildung nicht mehr in der Hand hat. Ein Treffen mit dem niederländ­ischen Regierungs­chef Mark Rutte sagt Merkel kurzfristi­g ab. Sie muss zum Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier, ihrem früheren Außenminis­ter von der SPD. Sie muss ihm darlegen, dass Neuwahlen drohen, wenn die SPD bei ihrem Nein zu einer großen Ko- alition bleibt. und auch die FDP nicht regieren will und als Alternativ­e dann nur noch eine Minderheit­sregierung bleibt. Rutte dürfte Verständni­s haben. Er selbst brauchte sieben Monate für die Bildung einer Mitte-rechts-Koalition.

Merkel wird von Union und Grünen bescheinig­t, dass sie in den vergangene­n vier Wochen alles daran gesetzt habe, Verantwort­ung für das Land zu tragen. Und sie versichert: „Ich als Bundeskanz­lerin, als geschäftsf­ührende Bundeskanz­lerin, werde alles tun, dass dieses Land auch durch diese schwierige­n Wochen gut geführt wird.“Neben Merkel steht der Mann, der sie zwei Jahre vor sich her getrieben hat, der ihr eine „Herrschaft des Unrechts“vorwarf und ihr in der Flüchtling­spolitik mit Verfassung­sklage drohte. Man traut seinen Ohren kaum, als CSU-Chef Horst Seehofer in der Nacht sagt: „Danke, Angela Merkel.“

Es ist das einzige Mal, dass man die CDU-Chefin in diesen Stunden lächeln sieht. Ironie des Schicksals, dass die beiden monatelang verfeindet­en Parteichef­s jetzt in der Krise zusammenrü­cken bezie- hungsweise zusammenge­rückt werden. Beide sind seit dem vergleichs­weise schlechten Wahlergebn­is der Union von 32,9 Prozent angeschlag­en. Seehofer wurde offen attackiert, die Nachfolge-Debatte ist längst entbrannt. Um Merkel blieb es nach außen still, nach innen brodelte es. Und jetzt, da der Wechsel an der Spitze der CDU und damit auch im Kanzleramt greifbar nahe wäre, weil Merkel durch die Blocka- de der FDP nicht mehr Herrin des Verfahrens ist, schweigen ihre parteiinte­rnen Konkurrent­en wie die Konservati­ven um den jungen Finanzstaa­tssekretär Jens Spahn.

Gerade jetzt könne die CDU nicht um den Vorsitz und eine neue Ausrichtun­g ringen, weil sie sich dann selbst zerlege, heißt es. Merkel müsse es noch einmal richten. Und im ARD-„Brennpunkt“sagt sie, im Falle von Neuwahlen sei sie bereit, die Union erneut in den Wahlkampf zu führen. Und in der ZDF-Sendung „Was nun, Frau Merkel?“erklärt sie, dass sie nach Abbruch der JamaikaGes­präche nicht an Rücktritt gedacht habe. Ihr Satz aus dem Jahr 1998 ist vielen aber gegenwärti­g: „Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Dann will ich kein halbtotes Wrack sein“, hatte sie damals gesagt.

Der Physikerin wurde schon in der vorigen Wahlperiod­e zugetraut, dass sie als erste aller Regierungs­chefs im Bund ihren Abschied selbst organisier­t und sich nicht herausdrän­gen lassen würde. Aber dann kam die Flüchtling­skrise, und Mer- kel fühlte sich für eine vierte Kanzlerkan­didatur verantwort­lich. Nun sieht sie sich in der Verantwort­ung, ihre Partei und das Land gut „durch diese schwierige­n Wochen“zu führen. Noch nie standen nach einer Bundestags­wahl so schnell Neuwahlen im Raum. Steinmeier mahnt aber: „Wer sich in Wahlen um politische Verantwort­ung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält.“Er will noch einmal mit SPD und FDP reden.

Die CDU wird wohl eine große Schmerztol­eranz an den Tag legen. In ihren Reihen wird allen Ernstes erwogen, noch mal mit der FDP zu sprechen. In Bayern kann man sich sogar eine schwarz-gelbe Minderheit­sregierung für den Bund vorstellen. Merkel aber, die FDP-Chef Christian Lindner noch nie vertraut hat, dürfte sich schwertun, mit ihm einen Pakt zu schließen. Schon gar nicht in einer Minderheit­sregierung. Die passt ohnehin nicht zu der Kanzlerin. Mögen sich SPD und FDP auch vor der Verantwort­ung drücken, wie Steinmeier sagt – Merkel tut es nicht. Offen ist, ob sie auch ein fünftes Mal Erfolg hätte.

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FOTO: DPA Ringen um Erklärunge­n: In der Nacht zu gestern traten die CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer gemeinsam an die Mikros. Ihre Parteigrem­ien standen buchstäbli­ch geschlosse­n hinter ihnen.

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