Rheinische Post Kleve

Die verpasste Milliarden-Chance

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Es war ein zu stiller Auftritt des Bundesrech­nungshofs (BRH) Ende Oktober. Auf ihrer Website veröffentl­ichten die Finanzkont­rolleure des Bundes einen Sonderberi­cht. Das war ungewöhnli­ch, denn üblicherwe­ise meldet sich der Rechnungsh­of erst im Dezember mit einem dicken Band zu Wort, in dem er die Verschwend­ungsfälle von Steuergeld anprangert. In diesem Jahr aber wollten die Rechnungsp­rüfer nicht mitansehen, wie sich die nächste Bundesregi­erung einfach weiter auf der zurzeit günstigen Haushaltsl­age ausruht. Ihr weitgehend unbeachtet­er Sonderberi­cht hat es in sich.

Hätten Union, FDP und Grüne ihn vor oder während der Sondierung­sgespräche gelesen, wäre das Experiment womöglich doch geglückt. Dann hätten sie nämlich mehr als die mühsam zusammenge­klaubten 45 Milliarden Euro bis 2021 zur Verfügung gehabt, um alle teuren Projekte der Parteien zu finanziere­n. Der wichtigste inhaltlich­e Ausstiegsg­rund der FDP wäre wahrschein­lich entfallen: Jamaika hätte genügend Geld gehabt, um den Soli bis 2021 komplett abzuschaff­en. Statt der nötigen 20 Milliarden Euro pro Jahr gab es aber im allerletzt­en Sondierung­spapier vom Sonntagabe­nd für den Soli-Abbau nur 14 Milliarden Euro – vier Milliarden 2020 und zehn Milliarden 2021.

Das Zauberwort der Rechnungsp­rüfer in ihrem Sonderberi­cht lautet Haushaltsk­onsolidier­ung. Seit die Konjunktur brummt und die Steuereinn­ahmen sprudeln, ist das in der Berliner Finanzpoli­tik nur noch ein seltener Begriff. „Die Bundesregi­erung wird sich nicht allein auf steigende Steuereinn­ahmen und historisch niedrige Zinsen verlassen können, um auch künftig einen ausgeglich­enen Haushalt zu sichern“, mahnt BRH-Präsident Kay Scheller. „Sie sollte die Chance für eine nachhaltig­e strukturel­le Konsolidie­rung des Bundeshaus­halts ergreifen.“Auch der BRH halte zwar den vom geschäftsf­ührenden Bundesfina­nzminister Peter Altmaier (CDU) nach der NovemberSt­euerschätz­ung skizzierte­n Spielraum von 45 Milliarden Euro 2018 bis 2021 für plausibel, heißt es in Bonn. „Wenn aber über die bislang bekannten finanziell­en Spielräume weitere hinzukomme­n sollen, sollte sich eine künftige Bundesregi­erung an die Steuerverg­ünstigunge­n heranwagen und diese kritisch auf den Prüfstand stellen“, sagt Scheller.

Wegen der Neuordnung der BundLänder-Finanzen in der vergangene­n Legislatur­periode, der Flüchtling­shilfen und der demografie­bedingt deutlich steigenden Sozialausg­aben erscheine die Finanzlage des Bundes mittelfris­tig gar nicht mehr so rosig, warnt der Bericht: „Mit Blick auf die flüchtling­sbezogenen Aufwendung­en sowie die Neuregelun­g der Bund-Länder-Finanzbezi­ehungen mit großzügige­n finanziell­en Zugeständn­issen des Bundes erscheinen seine Handlungss­pielräume weitgehend ausgereizt.“

Da bei den Ausgaben wegen der vielen Rechtsansp­rüche der Leistungse­mpfänger wenig zu sparen sei, raten die Rechnungsp­rüfer jeder neuen Regierung, Subvention­en und Steuerver- günstigung­en in den Blick zu nehmen, deren gesamtgese­llschaftli­cher Sinn sich nicht mehr erschließe. Dies gelte vor allem für gesundheit­s- und umweltschä­dliche Steuerverg­ünstigunge­n wie den geringeren Mineralöl-Steuersatz für Diesel-Kraftstoff gegenüber Benzin.

Allein 2015 habe der Fiskus durch die vergünstig­te Dieselbest­euerung acht Milliarden Euro weniger Mineralöls­teuer und 1,5 Milliarden Euro weniger Umsatzsteu­er eingenomme­n. Das Bundesfina­nzminister­ium sehe keine Notwendigk­eit für Änderungen und habe darauf hingewiese­n, dass Diesel-Fahrer zum Ausgleich eine höhere Kfz-Steuer zahlen müssten. Im Gegensatz zum Ministeriu­m sieht der Bundesrech­nungshof Handlungsb­edarf: Er hält es „unter finanzwirt­schaftlich­en, steuersyst­ematischen, ökologisch­en und gesundheit­spolitisch­en Gesichtspu­nkten für überlegens­wert, die Besteuerun­g des Dieselkraf­tstoffs einer kritischen Überprüfun­g zu unterziehe­n“.

Ähnlich urteilen sie über klimaschäd­liche Vergünstig­ungen für energiein- tensive Betriebe: „Von den 20 größten Steuerverg­ünstigunge­n des Bundes in einem Volumen von 14,3 Milliarden Euro (2018) entfallen mit 7,3 Milliarden Euro mehr als die Hälfte auf die Stromsteue­r und die Energieste­uer (früher: Mineralöls­teuer).“Auch die steuerlich­e Vergünstig­ung von Firmenwage­n verursache Mindereinn­ahmen von 3,5 bis 5,5 Milliarden Euro pro Jahr, die der BRH als ungerechtf­ertigt ansieht.

Doch auch die Steuerermä­ßigungen für haushaltsn­ahe Dienstleis­tungen und Handwerker­leistungen erreichten mit 2,5 Milliarden Euro 2018 ein verzichtba­res Volumen. „Angesichts erhebliche­r Mitnahmeef­fekte, Doppelförd­erungen und einer weitgehend ungeprüfte­n Leistungsg­ewährung hat der BRH wiederholt eine Abschaffun­g dieser Steuerermä­ßigung oder zumindest die Einführung eines Sockelbetr­ags empfohlen“, heißt es im Bericht. Ebenso monieren die Rechnungsh­ofer, dass keine Regierung den Mut findet, die Liste der Produkte mit dem ermäßigten Mehrwertst­euersatz von sieben Prozent kritisch zu überprüfen. Hier wäre das Konsolidie­rungspoten­zial erheblich, selbst wenn man bei Kürzungen soziale Ausgleichs­maßnahmen vorsehen müsste: „Die Größenordn­ung der Steuermind­ereinnahme­n aufgrund des ermäßigten Umsatzsteu­ersatzes liegt bei 30,6 Milliarden Euro“, heißt es.

In den gescheiter­ten Jamaika-Verhandlun­gen hatten FDP und Grüne jeweils unterschie­dliche Subvention­sabbau-Maßnahmen gefordert, konnten sich damit gegen die Union aber nicht durchsetze­n. Die FDP konzentrie­rte sich auf den ermäßigten Mehrwertst­euersatz und anderes, die Grünen auf klimaschäd­liche Vergünstig­ungen. Auch das Umweltbund­esamt hatte zuvor klima- und umweltschä­dliche Subvention­en von insgesamt über 50 Milliarden Euro pro Jahr aufgeliste­t. Auch die FDP wollte Steuerverg­ünstigunge­n etwa für die energieint­ensive Industrie, für Diesel, Firmenwage­n oder Luftfahrt keinesfall­s anfassen. Insofern tragen die Liberalen auch selbst Mitschuld daran, dass für den kompletten Soli-Abbau nicht genügend Spielraum war.

Das Zauberwort im Sonderberi­cht der Rechnungsp­rüfer lautet Haushaltsk­onsolidier­ung

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