Rheinische Post Kleve

Schulz kämpft mit Fliehkräft­en in der SPD

- VON JAN DREBES UND HOLGER MÖHLE

Von der demonstrat­iven Gelassenhe­it des Wochenanfa­ngs ist bei den Sozialdemo­kraten nichts übrig. Jetzt wartet der Bundespräs­ident.

BERLIN Also hoch die Treppe zum Schloss Bellevue. Reden über Deutschlan­d. Martin Schulz muss sich auf ein ernstes Gespräch einstellen heute beim Bundespräs­identen. Gestern hat Frank-Walter Steinmeier bei der Preisverle­ihung des Geschichts­wettbewerb­s des Bundespräs­identen einen schönen Satz gesagt: „Ein deutscher Bundespräs­ident muss über Vergangene­s und über die Erkenntnis, die daraus zu gewinnen ist, auch nachdenken, wenn er über die Zukunft spricht.“

Vergangene­s – das ist die jüngste Bundestags­wahl, das sind nun auch die gescheiter­ten Sondierung­sgespräche. Noch in der Nacht zu Montag, kurz nach dem Absprung der FDP, hatte ein Mitarbeite­r des SPDParteiv­orstands beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter beteuert: „Wir sind entspannt.“Vier Tage später ist davon nichts übrig. Der strikte Opposition­skurs von Parteichef Martin Schulz wird heftig infrage gestellt.

Den einstimmig­en Vorstandsb­eschluss vom Montag, man werde angesichts des Ergebnisse­s der Bundestags­wahl nicht in eine große Koalition eintreten, nahmen sich nur Stunden später mehrere Dutzend SPD-Abgeordnet­e in der Fraktionss­itzung zur Brust. Der Tenor: Indem man beteuere, man scheue die Neu- wahl nicht, erwecke man den Eindruck, man strebe eine Neuwahl an, statt Verantwort­ung zu übernehmen. Von fast 50 Wortmeldun­gen berichtete Johannes Kahrs, Sprecher des konservati­ven Seeheimer Kreises in der Bundestags­fraktion.

Kahrs agiert derzeit als Speerspitz­e jener Genossen, die sich alle Optionen – inklusive einer großen Koalition – offenhalte­n wollen. „Auch die SPD muss ihren bisherigen Kurs überdenken“, sagte Kahrs: „Die SPD trägt Mitverantw­ortung für den Staat.“Auch Michael Frenzel, Vorsitzend­er des SPD-Wirtschaft­sforums, sieht das so. „Ich bin für offene Gespräche mit der Union, um auszuloten, ob es eine gemeinsame, auch personelle Basis für eine Koalition gibt“, sagte er auf Anfrage.

Moderatere Formulieru­ngen fand NRW-Landesgrup­penchef Achim Post, der mahnte, Schritt für Schritt vorzugehen und zunächst die Gespräche der Parteichef­s mit dem Bundespräs­identen abzuwarten.

Ungeachtet dessen melden sich auch Befürworte­r des Opposition­skurses zu Wort. „Es kann nicht sein, dass der Parteivors­tand einen einstimmig­en Beschluss fasst und dieser nach nicht mal einem Tag von Heckenschü­tzen zerschosse­n wird“, sagte die Vorsitzend­e des SPD-Forums „Demokratis­che Linke 21“, Hilde Mattheis. So mache sich die Partei völlig unglaubwür­dig: „Die SPD darf jetzt nicht in eine große Koalition gehen, das würde einen weiteren Negativrek­ord bei der nächsten Wahl bedeuten.“Angela Merkel habe viele Möglichkei­ten etwa für eine Minderheit­sregierung: „Diese sind auszuschöp­fen.“

Frenzel lehnt das klar ab. „Eine Minderheit­sregierung, in der man naturgemäß personell nicht vertreten ist, ist keine Lösung“, sagte er. Man könne allenfalls in mühsamen Prozessen seine Position einbringen. „Ob das der Wähler honoriert, bezweifele ich.“Deutschlan­d brauche eine stabile Regierung.

Schulz muss neben dem großen Problem der Regierungs­bildung auch den Bundespart­eitag in zwei Wochen in Berlin im Auge haben. Dann will er, der gescheiter­te Kanzlerkan­didat, wieder als Parteivors­itzender antreten. Bislang ist Schulz der einzige Kandidat. Möglicherw­eise aber entwickelt sich auch innerhalb der SPD eine neue Dynamik, was den Chefposten angeht.

Die Parteilink­e Mattheis gab gestern auch schon einmal inhaltlich­e Forderunge­n zu Protokoll. „Ich halte es für notwendig, dass in dem Leitantrag zum Bundespart­eitag sehr klar die Korrektur der SPD-Politik formuliert wird“, sagte sie. Man brauche eine Abkehr von neoliberal­er Politik, die für Ungerechti­gkeiten in Deutschlan­d und Europa mitverantw­ortlich sei. Ein klarer Kurs sei notwendig, samt Abschaffun­g von Hartz IV und einer gerechten Steuerpoli­tik mit einer Vermögenst­euer. Zudem kündigte Mattheis an, für den Parteivors­tand zu kandidiere­n.

Unterdesse­n erfuhr unsere Redaktion, dass sich der geschäftsf­ührende Fraktionsv­orstand gestern Vormittag zu einer außerorden­tlichen Sitzung getroffen hat. Offensicht­lich sah man nach der turbulente­n Fraktionss­itzung vom Montag Bedarf, in diesem deutlich verschwieg­eneren Gremium zu beratschla­gen. Neben Fraktionsc­hefin Andrea Nahles und ihrem Parlamenta­rischen Geschäftsf­ührer Carsten Schneider gehören auch die stellvertr­etenden Fraktionsv­orsitzende­n dieser Runde an. Details aus den Gesprächen wurden zunächst nicht bekannt; weiterer Gesprächsb­edarf ist aber zu erwarten.

All das bringt Martin Schulz vor seinem Termin mit Steinmeier in eine heikle Lage. Es geht um: die Angst der SPD vor diesem Bundespräs­identen, der schon am Montag erkennen ließ, dass er nun von allen Parteien Bewegung erwarte – SPD inklusive. Zwei Akteure mit unterschie­dlichen Interessen. Steinmeier, dessen SPD-Mitgliedsc­haft ruht, seit er Bundespräs­ident ist, muss als Staatsober­haupt darauf hinarbeite­n, Bewegung in den derzeit stockenden Prozess einer Regierungs­bildung zu bekommen. Ist Schulz am Ende doch noch zu Gesprächen mit den Unionspart­eien bereit?

„Vier Wochen umsonst. So günstig ist nicht mal Sixt“– so wirbt der deutsche Autovermie­ter dieser Tage. Das ist böse. Es könnte sich herausstel­len, dass die gescheiter­ten Sondierung­en doch nicht umsonst waren, womit man wieder beim Geschichts­wettbewerb des Bundespräs­identen wäre. Was lernen wir für die Zukunft? „Demokratie ist anstrengen­d“, hat Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble in seiner Antrittsre­de gesagt. Sie kostet Energie. Vielleicht bekommt das politische Berlin nun eine ganz andere Energiewen­de.

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