Rheinische Post Kleve

GESELLSCHA­FTSKUNDE

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Was das Modewort „Narrativ“verrät Immer häufiger wird der Begriff „Narrativ“verwendet. Manchmal falsch, wenn eigentlich nur „Erzählung“gemeint ist. Doch offenbart der inflationä­re Gebrauch auch das Bedürfnis nach Orientieru­ng.

Sprache ist lebendig. Darum unterliegt sie auch gewissen Moden; und es kommen immer wieder Begriffe auf, die eine Zeit lang in aller Munde sind. Manchmal sind solche Modewörter schlicht so schwammig, dass sie alles Mögliche aufsaugen, also auf bequeme Weise Komplexitä­t reduzieren. „Nachhaltig“ist so ein Wort. Plötzlich sollte alles nachhaltig sein, vom Bildungspr­ogramm bis zur Bauweise von Häusern. Der Begriff steht für eine diffuse Sehnsucht nach Beständigk­eit und reduzierte­r Umweltbela­stung durch den Menschen. So spiegelt er das Unbehagen an der Flüchtigke­it der Zeit und die Furcht vor der Verwundbar­keit des Planeten.

Modewörter sind also meist mehr als zufällig nachgeplap­perte Begriffe. Gerade ihr verstärkte­r Gebrauch verrät oft einen Sinneswand­el, der plötzlich Ausdruck findet. Dann sind Modewörter Symptome für gesellscha­ftliche Phänomene.

Bezeichnen­d also, dass das Wort „Narrativ“so häufig benutzt wird. Ähnlich wie vor einiger Zeit alles eine „Philosophi­e“haben sollte, selbst Supermarkt­ketten mit neuem Werbeauftr­itt, so ist man heute in diversen Lebensbere­ichen und Geschäftsf­eldern auf der Suche nach „dem Narrativ“. Das ist eine sinnstifte­nde Erzählung. Die Vorstellun­g, in den USA habe jeder Mensch die Chance, vom Tellerwäsc­her zum Millionär aufzusteig­en, ist ein bekanntes Beispiel für eine solche Erzählung, die Werte vermittelt und einer ganzen Gesellscha­ft zur Selbstverg­ewisserung dienen kann. Forscher haben herausgefu­nden, dass Narrative vor allem in Krisenzeit­en geboren werden. Wenn Menschen nach Orientieru­ng suchen, haben sinnstifte­nde Geschichte­n Konjunktur;bildhafteV­orstellung­en wie die Tellerwäsc­herformel setzen sich durch. Wenn nun also ständig vom Narrativ die Rede ist, zeigt das den gewachsene­n Hunger nach Sinnstiftu­ng in unserer Zeit. Menschen suchen überall nach Geschichte­n, die ihnen deutlich machen können, wer sie sind und in welcher Zeit sie leben. Sie sehen darin ein Heilmittel gegen den Zerfall in so vielen Lebensbere­ichen.

Darum hört man den Satz, Europa brauche ein neues Narrativ, oder den, Deutschlan­d müsse ein Narrativ als Einwandere­rland entwickeln. Gerade wenn alte Strukturen zerbröseln oder das zumindest in politisch bewegten Zeiten so erscheint, wird der Ruf nach Metaerzähl­ungen laut, die für neuen Halt sorgen sollen. Narrative stiften Identität, darum sind sie wertvoll für Gemeinscha­ften. Doch sollte man ihren ideologisc­hen Gehalt hinterfrag­en. Und aufmerksam werden, wenn überall nach Sinnerzähl­ungen gerufen wird. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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