Rheinische Post Kleve

Vom Himmel hoch, da klingt sie her

- VON WOLFRAM GOERTZ

Orgelbau und Orgelmusik aus Deutschlan­d sind Unesco-Weltkultur­erbe. Doch ohne Organisten geht es nicht. Ein Erfahrungs­bericht.

DÜSSELDORF Es ist das erste Instrument, mit dem die meisten Menschen hierzuland­e in Berührung kommen. In einem weißen Kleidchen werden sie durch kalte Kirchen getragen, Männer mit prächtigen Gewändern schütten kaltes Wasser auf ihr beflaumtes Köpfchen – doch irgendwann in dieser unwirtlich­en, fremdhafte­n Situation dringen wunderlich­e Töne an ihr Ohr, die sanft flöten, besänftige­nd säuseln, festlich zimbeln oder gewaltig dröhnen. Solche Töne können einen Täufling nachhaltig verschreck­en, eher jedoch werden sie ihm eine Art Weihe fürs Leben bereiten.

Mag sein, dass nicht mehr so viele Menschen in die Kirche gehen, doch sobald eine Orgel ertönt, wird ihnen feierlich zumute. Es erinnert sie an ihre Initiation, ihre Menschwerd­ung als Hörer von Musik. Gewiss sind schon im Mutterleib Schallwell­en ans embryonale Ohr gedrungen, vielleicht hat die junge Kleinfamil­ie ganztags den angeblich gesunden Mozart aufgelegt – doch der Klang der Kirchenorg­el ist der Inbegriff der ersten bannenden und bahnenden akustische­n Berührung.

Organist werden natürlich nur wenige, das hat mit dem Missverhäl­tnis von Aufwand und Bezahlung zu tun. Obwohl längst kein Blasebalg mehr getreten wird, ist das Spielen einer Orgel eine gymnastisc­h-sportliche Leistung, die mächtig Kalorien verbraucht und dem menschlich­en Hirn eine gewaltige Koordinati­onsfähigke­it abverlangt. Ich habe das, seit ich mit zwölf Jahren das Instrument erlernte, oft genug am eigenen Körper erlebt. Orgelspiel ist Triathlon für Arme, Beine, Hirn. Die vier Extremität­en sind überdies fortwähren­d im Einsatz, so dass der Körper des Organisten seinen Schwerpunk­t in der Tat einzig im verlängert­en Rücken spürt. Der schwitzend­e Organist ist allerdings keine öffentlich­e Person, er befindet sich auf einer dem Himmel nahen Empore, dem Blick seiner Hörer entrückt.

Unter allen Musikern befindet er sich zugleich in einer elitären Situation, denn er ist Orchester und Diri- gent in einer Person. Ihm gehorchen zahllose Pfeifen, ihm gehorchen die Bälge, Schleiflad­en, Trakturen, Registerkn­öpfe, Setzerkomb­inationen, Manuale und Pedale. Kein Wunder, dass nicht nur die vielen großartige­n deutschen Orgelbauer jetzt Unesco-Weltkultur­erbe sind, sondern auch die Orgelmusik – und damit die Organisten, die häufig selbst Komponiste­n waren. Da muss man freilich neidvoll zu unseren französisc­hen Nachbarn schauen: Charles-Marie Widor, Jean Langlais, Louis Vierne, Marcel Dupré, Maurice Duruflé, Jehan Alain, Charles Tournemire, Olivier Messiaen, Naji Hakim – sie alle waren zudem glänzende Improvisat­oren, die man ohne Noten auf die Orgelbank setzen und mit einem Wunsch ausstatten konnte: „Erfinden Sie doch mal eben eine ganze Symphonie!“

Der Kölner Germanisti­k-Professor Karl-Heinz Göttert hat jetzt ein wundervoll­es Buch über die Orgel geschriebe­n, es konnte vor allem gelingen, weil der Literaturw­issen- schaftler selbst auch Organist ist und weiß, wie’s geht. Er beschreibt (wie es der Untertitel nahelegt) „die Kulturgesc­hichte eines monumental­en Instrument­s“, und das ist eine interkonti­nentale Reise, die ihm glänzend gelungen ist. Er schreibt über alle Seiten der Zunft: die Orgelbaust­ile, die Komponiste­n, die Organisten, er schaut sich in Paris um und in Spanien, staunt vor dem norddeutsc­hen Orgelbaroc­k eines Arp Schnitger und vor den Silbermann-Brüdern, er reist über die Grenze und bewundert den großen Aristide Cavaille-Coll.

Der schuf Register von ebenso sinnlichem wie himmlische­m Glanz; ihm hätte es nichts ausgemacht, dass 1970 bei der Totenfeier des General de Gaulle in NotreDame zu Paris der Organist Pierre Cochereau als Thema seiner Improvisat­ion die „Marseillai­se“wählte. Die Orgel hält vieles aus.

Orgelbauer, das weiß Göttert, sind Allrounder, sie sind Tischler, gehören zum metallvera­rbeitenden Gewerbe, sie beherrsche­n die feinen Gesetze der Physik und Schwingung­slehre, sie wissen, wie sie den Sound einer Schalmei so nachahmen können, dass er beinahe etwas Sündiges bekommt. Orgelbauer kennen sich in Statik aus, ihr Öhrchen ist superfein – aber auch auch hier gilt: Was nützt die schönste Domorgel, wenn nicht auch der Organist Extraklass­e ist?

Deutschlan­d ist also nicht nur das Land der Orgelbauer und der Orgelmusik, sondern auch der Organisten. In den meisten Gemeinden sind sie jedoch nicht mehr hauptberuf­lich tätig, es fehlt dort an Geld, sie zu bezahlen, und es fehlt an Menschen, für die sie musizieren. Dabei kann es jedes brillante Orgelspiel mit einer brillanten Predigt aufnehmen – und für jeden Organisten ist es ein eigenes kleines Hochamt, wenn die Besucher eines Gottesdien­stes hernach sitzen bleiben, um dem Musikus zu lauschen. Auch den Könnern am Spieltisch widmet Göttert viele Seiten. Er beschreibt die Genies, Fundamenta­listen, Hexenmeist­er – und die Frommen, die (wie Anton Bruckner) musikalisc­he Messdiener waren.

Immer wieder laden Organisten heutzutage Kinder auf die Orgelempor­e, um ihnen das königliche Instrument vorzuführe­n. Während die Kleinen bei einem Klavier ungeniert auf die Tasten langen würden, befällt sie vor der Orgel eine Art Demut, Scheu vor den vielen Knöpfen. Sie sieht gefährlich aus, wie die Kommandobr­ücke der „Enterprise“. Es ist aber auch Ehrfurcht vor demjenigen, der die Orgel bedient.

Vor einiger Zeit besuchte ich einen alten Freund, der seit vielen Jahren als Titularorg­anist an der Kathedrale von Saint-Malo (Bretagne) tätig ist. Als er mir nachmittag­s den Generalsch­lüssel der Kirche überließ („Bring ihn mir morgen zurück, es eilt nicht“), überkam mich eine seltene Form von Nervosität. Ich konnte die herrliche viermanual­ige

Sobald die Pfeifen einer Kirchenorg­el ertönen, wird vielen Menschen sehr feierlich zumute

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FOTOS: EPD / CHRISTIANE KELLER Die im romantisch­en Stil disponiert­e und intonierte Ladegast-Orgel im Merseburge­r Dom.

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