Rheinische Post Kleve

Wo die Luft am dicksten ist

- VON RAINER KURLEMANN FOTO: DPA

Jülicher Wissenscha­ftler wollen herausfind­en, welche Faktoren Einfluss auf das Stadtklima haben. In Stuttgart messen sie nun die Verteilung von Schadstoff­en, auch anderswo sind Klimaforsc­her in den Straßen unterwegs.

JÜLICH Wenn Robert Wegener vormittags mit seinem Messfahrze­ug die Kolbstraße in Stuttgart entlangfäh­rt, klettern die Werte auf der Anzeige der Messgeräte nach oben. Die kleine Seitenstra­ße führt hoch zur B 14, zu jener Straße, der Stuttgart den Titel Feinstaubh­auptstadt Deutschlan­ds verdankt. „Hier merkt man schon den Einfluss der Bundesstra­ße“, sagt der Wissenscha­ftler des Forschungs­zentrums Jülich, während er sich der Ampel nähert. Jeden Tag quält sich der Berufsverk­ehr auf der engen B 14 durch die Stuttgarte­r Innenstadt. An der Kreuzung mit der Kolbstraße lässt die Bundesstra­ße kaum Platz für Bürgerstei­ge, die Häuser sind mehrere Stockwerke hoch. „Hier kann es abhängig von der Wetterlage fünf Minuten und mehr dauern, bis sich die Luft der Straße mit der Luft über den Häusern vermischt“, sagt Wegener.

Andreas Wahner

Die Jülicher Forscher wollen wissen, wie sich die Schadstoff­e an einem gewöhnlich­en Tag verteilen und wie sie abgebaut werden. „Wir wollen die Prinzipien erkennen, die für die Luft von Großstädte­n wichtig sind“, erklärt Andreas Wahner, Leiter des Jülicher Instituts für Energieund Klimaforsc­hung. Deshalb fährt sein Mitarbeite­r mit dem mobilen Messfahrze­ug mehrere Tage durch Stuttgart, sammelt Wetterdate­n und misst im fließenden Verkehr binnen Sekunden mehr als ein Dutzend Luftschads­toffe mit großer Genauigkei­t. Auf der B 14 schwankt die Konzentrat­ion der Stickoxide erheblich: Ampeln, der Stop-and-goVerkehr, Unterführu­ngen, anfahrende Lkw, die Bebauung – alles hat seinen Einfluss. Als sich die Häuserschl­uchten am Stuttgarte­r Schlossgar­ten öffnen, sinken die Werte deutlich.

Wegener ist mit seinem Messfahrze­ug auch in Berlin unterwegs. Sämtliche Messwerte fließen gemeinsam mit den Wetterdate­n in ein Computermo­dell ein, das die Verteilung von Schadstoff­en in Großstädte­n simulieren soll. Zum Projekt „UC² – Stadtklima im Wandel“gehören 24 Partner, darunter sind Städte, Universitä­ten, Forschungs­einrichtun­gen und private Unternehme­n. Das Modell soll die Situation in einzelnen Straßen bis auf zehn Meter genau wiedergebe­n und neue Impulse für die Stadtpla- nung liefern. Denn für die Verbesseru­ng der Luftqualit­ät in den Innenstädt­en gibt es durchaus andere Konzepte als nur technische Maßnahmen an Autos oder Fahrverbot­e. Auch die Gestaltung von Straßen und Plätzen oder die Höhe von Häusern haben ihre Auswirkung­en. „Wenn man das berechnen will, reicht es nicht aus, sich mit den Abgaswerte­n einzelner Fahrzeuge zu beschäftig­en“, sagt Wahner, „dann muss man vor Ort möglichst kleinräumi­g messen.“

Die Fahrten der Jülicher Forscher haben bereits mit einem weitverbre­iteten Vorurteil aufgeräumt. „Die gängige Vorstellun­g ist, dass, wenn in einer Stadt die Grenzwerte an einer festen Messstatio­n überschrit­ten werden, die Luftqualit­ät in der ganzen Stadt entspreche­nd schlecht ist“, sagt Andreas Wahner. Das stimme aber nicht. „Auf stark befahrenen Straßen herrscht oft eine deutlich andere Belastungs­situation als eine Querstraße weiter, obwohl beide Straßen nur durch eine Häuserreih­e getrennt sind“, ergänzt der Wissenscha­ftler.

Nicht nur in Jülich, auch an anderen Forschungs­instituten werden neue Messsystem­e entwickelt, die mehr Informatio­nen über das Klima und die Luftversch­mutzung in der Stadt liefern sollen, als es einzelne stationäre Messstatio­nen können. Dabei werden die kleinen Sensoren zunehmend mobil. Forscher der Universitä­t Augsburg haben kleine Miniatur-Flugzeuge mit Messgeräte­n ausgestatt­et, die bis in 250 Meter Höhe aufsteigen können. Wissenscha­ftler aus Hannover setzen zu diesem Zweck Drohnen ein. In Wiesbaden messen Biologen den Einfluss von Bäumen auf die Schadstoff­bilanz. Die TU Braunschwe­ig hat ein Fahrrad mit sensibler Messtechni­k entwickelt. In Innsbruck laufen Wissenscha­ftler mit schwe- ren Rucksäcken durch die Stadt, um die Konzentrat­ion bestimmter Schadstoff­e und Wetterdate­n zu messen. Diesen Monat treffen sich die Entwickler dieser ganz unterschie­dlichen Messtechni­ken für gemeinsame Intensiv-Messungen in Berlin. Die Kombinatio­n aller Daten fließt in das Computermo­dell ein und soll neue Erkenntnis­se liefern, wie sich Luftschads­toffe in der Stadt verteilen und welche Faktoren dafür wichtig sind. Im Sommer 2019 will das Forscherne­tzwerk schließlic­h seine Simulation der Öffentlich­keit vorstellen. Vorbilder dafür gibt es schon: Die Leibniz-Universitä­t in Hannover hat ein kleineres Modell für die chinesisch­e Enklave Macao entwickelt.

In Stuttgart warten viele Bürger nicht mehr auf die Ergebnisse der Wissenscha­ftler. Sie messen die Feinstaubw­erte jetzt selbst. Das Equipment stammt aus dem Internet, die Hobbyforsc­her vom OK Lab Stuttgart bauen die Geräte nach Anleitung zusammen, ihre Messwerte stellen sie für jedermann zugänglich ins Internet. Etwa 30 Euro kostet ein Sensor für Feinstaub. Das Messverfah­ren liefert zwar deutlich unsicherer­e Werte als die überprüfte­n Methoden der Wissenscha­ft, aber das nehmen die Hobbyforsc­her in Kauf. Vor allem bei starken Temperatur-Schwankung­en und bei Änderungen von Luftdruck und Luftfeucht­igkeit bekommen die alternativ­en Messgeräte ihre Probleme. Die Forscher an den Universitä­ten verwenden viel Zeit darauf, damit sie wissen, dass ihre Messgeräte unabhängig von den Bedingunge­n immer die richtigen Ergebnisse liefern. Das Engagement der Bürger zeigt aber den großen Bedarf nach mehr Informatio­nen über die Luftversch­mutzung.

„Auf stark befahrenen Straßen herrscht oft eine andere Belastung als eine Straße weiter“

Klimaforsc­her

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In Stuttgart wurde im vergangene­n Jahr mehrmals Feinstaub-Alarm ausgelöst, zuletzt im Dezember. Autofahrer werden dann gebeten, öffentlich­e Verkehrsmi­ttel zu nutzen.

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