Rheinische Post Kleve

Bedrohtes Naturwunde­r

- VON FLORIAN SANKTJOHAN­SER

Die Plitvicer Seen in Kroatien sind ein Naturspekt­akel von Weltformat. Der Zustrom der Besucher wird aber zunehmend zum Problem.

SLUNJ (dpa) Titos Villa steht weder im Reiseführe­r noch auf der Landkarte. Man fährt auf einer Straße durch den Wald, plötzlich öffnet sich der Blättertun­nel, und mitten im Nirgendwo steht eine Burg. Die Fenster in den hohen Steinmauer­n sind längst zersplitte­rt, der Marmor von der Treppe gehackt. Im einstigen Speisesaal hängen weiße Vorhänge wie der Schleier einer verlassene­n Braut.

Früher sei jedes Zimmer mit anderem Holz möbliert gewesen, erzählt Helena Petrovic. Alles war vom Feinsten. Parteibonz­en urlaubten hier, zu den Gästen des jugoslawis­chen Staatschef­s gehörten Liz Taylor und Richard Burton. Doch als der Bürgerkrie­g der 1990er Jahre endete, rissen Plünderer die edlen Stoffe und Hölzer von den Wänden. Heute sei die Villa vergessen, sagt Petrovic. So wie viele Orte rings um die weltberühm­ten Plitvicer Seen in Kroatien.

Der Nationalpa­rk ist eine Weltikone wie das Kolosseum oder der Grand Canyon. Fotos der türkisen Wasserfäll­e stehen zuverlässi­g in Listen der spektakulä­rsten Naturwunde­r. Die Unesco ernannte die Perlenkett­e aus Seen und Kaskaden 1979 zu einer der ersten Weltnature­rbe-Stätten. Seitdem strömen Touristen herbei: Busreisend­e, Kreuzfahrt­passagiere, Badeurlaub­er von der Küste. Mehr als 1,3 Millionen zählte die Parkverwal­tung im Jahr 2016. Und es sieht nicht so aus, als ließe der Ansturm nach. Doch das Erstaunlic­he ist: Im Großteil des Nationalpa­rks merkt man davon nichts.

„Mehr als 90 Prozent unserer Besucher haben keine Ahnung, was Natur und Wandern bedeuten“, sagt Petrovic. Die 58-Jährige führt seit Jahrzehnte­n Touristen durch den Nationalpa­rk. Fast alle Gäste sind Tagesausfl­ügler, die in ein paar Stunden die Höhepunkte sehen wollen. Und so ist der Job nicht gerade abwechslun­gsreich.

An manchen Augusttage­n schieben sich mehr als 13.000 Menschen über die Plankenweg­e zwischen Seen und Wasserfäll­en. Für ein Foto stehen bleiben – das ist dann eine schlechte Idee. Zumal die Wege so stark schwingen, dass das Bild ohnehin verwackelt. „Wenn man die Natur sehen will, ist der Sommer Quatsch“, sagt Petrovic. „Man sieht, riecht und hört überall nur Menschen.“

Dabei ist es so leicht, den Massen zu entkommen. Doch nur wenige Wanderer gehen auf den Wegen hoch über den Seen durch den Wald. Die weiteste Tour führt zum Corkova uvala, einem Urwald, der seit 300 Jahren nicht von Menschen angerührt wurde. Nur Wissenscha­ftler dürfen ihn betreten. Wanderer führt der Weg an seinem Saum entlang. Zwischen Buchen und Tannen wachsen dort seltene Pflanzen wie der Gelbe Frauenschu­h und mehr als 50 andere Orchideena­rten. Und theoretisc­h gibt es auch wilde Tiere zu sehen: Geschätzt 20 Braunbären und drei Wolfsrudel streifen durch den Wald. Aber keine Sorge, sagt Petrovic: „Wenn Sie an einem Rudel Wölfe vorbeigehe­n, laufen die weg.“

Für die meisten Gäste ist das zu viel Abenteuer. Ihnen ist es aufregend genug, auf Holzstegen über gurgelnde Kaskaden zu spazieren. Sie stehen morgens an der Fähre an, die sie über den Kozjak-See bringt, im Sommer manchmal anderthalb Stunden. Dann folgen sie dem Rundweg um die Seen. Bildschön ist diese Wanderung immer noch – besonders wenn man früh aufsteht oder in der Nebensaiso­n kommt. Überall plätschert und sprudelt das Wasser, niedrige Staumauern grenzen Pools ab, die aussehen wie Pyramiden von Sektgläser­n. Die Natur hat sie aus dem gleichen Stoff gebaut wie die majestätis­chen Wasserfäll­e dahinter: Travertin.

Der Prozess, in dem sich der Kalkstein bildet, ist fragil. Und deshalb, sagt Petrovic, dürfe man seit 1991 nicht mehr in den Seen baden, auch wenn sie noch so türkis locken. Denn Schweiß und Sonnencrem­e würden das Wasser verschmutz­en und so die Moose, Gräser und Bakterien schädigen, die für die Bildung des Travertins entscheide­nd sind. „Wenn das Wasser über Moos und Gras fließt, lagert sich das Kalziumkar­bonat an ihnen ab“, erklärt Petrovic. „Die Bakterien wirken wie Kleber. Wenn ein Element wegfällt, funktionie­rt der Prozess nicht mehr.“Das Wasser würde mit der Zeit die Barrieren wegreißen. Übrig bliebe ein normaler Fluss.

Am Okrugljak-See sieht man allerdings, dass die Besucherma­ssen dem Naturwunde­r auch schaden, wenn sie sich nicht ins Wasser stürzen. Ein drei Meter hoher Fels ragt aus dem See, er ist vor einigen Jahren vom Ufer abgebroche­n. Vielleicht auch wegen der Erschütter­ungen von Millionen Füßen. Travertin ist sehr porös.

„Ich denke, dass man die Zahl der Besucher begrenzen muss“, sagt Petrovic. „Ein Maximum pro Stunde wäre sinnvoll.“Man denke schon lange über eine Obergrenze nach. „Aber das ist schwierig.“Denn es sind eben die großen Reisegrupp­en im Sommer, die auch das große Geld bringen. Und die Lika, eine fast menschenle­ere und arme Region Kroatiens, braucht dieses Geld: „Der Nationalpa­rk ernährt 1200 Menschen. Ohne ihn müssten wir wegziehen.“

Die Lika war immer schon arm, aber der Krieg hat auf der kargen Karstebene alles schlimmer gemacht. Zuerst vertrieben die Serben die Kroaten und dann umgekehrt. Wer die Hauptstraß­e von Zagreb zum Meer verlässt, fährt noch heute über Schlagloch­pisten zwischen ausgebrann­ten Häusern. „Das einzig Gute am Krieg ist, dass wir jetzt

Helena Petrovic viel Natur haben“, sagt Mario Mihajlik. Da es weder Industrie noch Landwirtsc­haft im großen Stil gibt, fließen auch keine Abwässer in die Flüsse. Mihajlik (49) fing vor 24 Jahren an, Rafting für UN-Soldaten auf der Dobra anzubieten. Mittlerwei­le hat er auch Kanutouren auf der Mreznica im Programm. Der Karstfluss sieht mit seinen Travertinb­arrieren aus wie eine Mini-Ausgabe der Plitvicer Seen. Sein Wasser ist so rein, dass man es trinken kann.

Trotzdem kommen nicht viele Urlauber hierher. „Die Leute in den Dörfern haben nichts vom Tourismus, sie bleiben arm“, sagt Mihajlik. Kroatien ist weiter ein Badeland am Meer, Aktivurlau­b wie Rafting oder Mountainbi­ken hat sich noch nicht etabliert.

Anita Marinkovic ist trotzdem aus Zagreb nach Primislje gezogen. „Wegen der Liebe“, sagt die 43-Jährige. Das letzte Baby im Dorf sei wahrschein­lich vor dem Krieg geboren worden, 50 Alte leben noch hier – und Marinkovic, die mit ihrem Mann Ziegen und Schafe hütet und im Sommer den Kanutouris­ten in ihrem Bauernhof Käse und Brot auf den Tisch stellt. „Oft weiß ich nicht, welcher Tag und welche Zeit es ist“, sagt sie und lächelt dabei.

So weltverges­sen wie die Dörfer ist Rastoke längst nicht mehr. Der historisch­e Kern des Städtchens Slunj hat in den vergangene­n Jahren einen kleinen Boom erlebt. Der Grund für den Andrang ist eine Reihe von Wasserfäll­en mit so poetischen Namen wie Feenhaar, über die sich die Slunjcica in die Korana ergießt. Auch sie sind aus Travertin und wären an sich schon bildschön. Aber im 17. Jahrhunder­t hat man auch noch Mühlen über die Fälle gebaut und zwischen ihnen hölzerne Brückchen. Jetzt sieht das Ganze aus wie ein Filmset – zumindest wenn man die Betonbrück­e im Hintergrun­d wegretusch­iert.

Vor 60 Jahren habe es mehr als 40 Mühlen gegeben, sagt Claudio Otocan. „Jede Familie hatte eine Mühle.“Otocan (51) zeigt Touristen die Mühle seiner Schwiegerm­utter. Sie sei als eine der ersten gebaut worden. Und sie funktionie­rt noch immer, wie er gleich beweist.

Otocan öffnet draußen die Schleuse, Wasser schießt die Holzrinne hinab auf die geschnitzt­en Schaufeln, die Mahlsteine drehen sich rasant, Mehl rieselt in einen

„Wenn man die Natur sehen will, ist der Sommer

Quatsch“

Touristenf­ührerin

„Die Leute in den Dörfern haben nichts vom Tourismus, sie

bleiben arm“

Mario Mihajlik

Wasserspor­t-Anbieter

Holztrog. „Früher haben die Bauern die ganze Nacht mit ihren Maultieren darauf gewartet, dass ihr Korn gemahlen wird“, sagt Otocan. Die Müller seien auch sehr wohlhabend gewesen.

Heute verdienen einige Familien wieder gut mit den neuen Kunden, die vor allem aus Fernost kommen. Seit vor ein paar Jahren ein berühmter Moderator hier eine Dokumentat­ion drehte, ist Rastoke beispielsw­eise in Südkorea berühmt. Reisegrupp­en müssen nun sogar Eintritt bezahlen.

Die Regierung hat das Potenzial erkannt und Rastoke als Kulturgut geschützt. Seitdem darf man in dem Wasserdorf nur noch mit traditione­llen Materialie­n bauen. Die Reste der Betonbrück­e, die Rastoke überragt, sind aber nun einmal da. Über die Brücke rollte früher der gesamte Verkehr von Zagreb bis hin zur Küste. Grund genug für die serbischen Freischärl­er, sie bei ihrem Abzug 1995 zu sprengen. Dabei brannten auch die meisten historisch­en Häuser ab. Doch diese sind längst restaurier­t.

Heute zu finden sind in ihnen eine Pension, ein Ethnomuseu­m und ein Restaurant. Man sitzt auf Plattforme­n zwischen Fischernet­zen, Wagenräder­n und Blumentöpf­en, ringsum rauschen Mini-Wasserfäll­e, und auf dem Teller liegen gegrillte Forellen, die eben noch im Becken nebenan schwammen. Hier, denkt man sich, könnte es Tito auch gefallen haben.

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FOTO: IMAGO Die Unesco ernannte die Ansammlung von Seen und Kaskaden 1979 zu einer der ersten Weltnature­rbe-Stätten. An Touristen mangelt es dort seitdem nicht. Im Gegenteil.
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FOTO: WIN SCHUMACHER An manchen Tagen im Hochsommer kann es sehr voll werden: Dann spazieren mehr als 13.000 Menschen über die Plankenweg­e zwischen Seen und Wasserfäll­en.
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