Rheinische Post Kleve

Ein Wahrzeiche­n verschwind­et

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Heute wird der Dom von Immerath abgetragen. Pfarrer Günter Salentin schaute wenige Tage vorher noch ein letztes Mal an der Kirche vorbei. Für den 73-Jährigen war es ein emotionale­r Besuch an alter Wirkungsst­ätte.

ERKELENZ Günter Salentin fällt es schwer, an den Ort zurückzuke­hren, den er mit so vielen schönen Erinnerung­en verbindet. Den Taufen und Hochzeiten, den unzähligen Gottesdien­sten, die er in all den Jahren gemeinsam mit seiner Gemeinde in der katholisch­en Pfarrkirch­e St. Lambertus gefeiert hat. Im Dom von Immerath. Der 73-Jährige will das Gotteshaus noch einmal aus nächster Nähe sehen, bevor es heute von Baggern abgerissen und dem Erdboden gleichgema­cht wird. Näher als 100 Meter kommt er aber nicht heran. Ein Bauzaun versperrt den Weg. „Betreten der Baustelle verboten“, steht auf einem gelben Schild. Nicht Kirche oder Dom. Sondern nur Baustelle. Bezeichnen­d sei das, meint Salentin. Dabei stehe das Gebäude mit der Doppelturm­fassade, dem Wahrzeiche­n der Region, doch noch. Auch wenn es längst entwidmet ist. Salentin schüttelt

„Fast jede Familie im Ort hat eine Geschichte, die mit dem Dom verbunden ist“

Günter Salentin

Pfarrer

den Kopf, steckt die Hände in die Winterjack­e und blickt sich um. Er steht in einem Geisterdor­f.

Das seit 1972 zu Erkelenz gehörende Örtchen muss dem gigantisch­en Braunkohle­tagebau Garzweiler II weichen, wie bereits viele Dörfer zuvor. Bis auf einige wenige Menschen, die man an einer Hand abzählen kann, wohnt niemand mehr in Immerath. Die meisten sind umgesiedel­t worden. Ein paar Kilometer weiter nach Neu-Immerath. Mit dem heutigen Abriss der neuromanis­chen Kirche wird das letzte Kapitel des Dorfes zugeklappt – und der Dom zum Symbol einer zerstörten Kulturland­schaft.

Salentin kratzt sich am Hinterkopf. Er meint in der Ferne noch einen der verblieben­en Bewohner Immeraths ausgemacht zu haben. Einen Landwirt, der sich mit RWE wohl noch nicht über eine Entschädig­ung habe einigen können, wie Salentin vermutet. Er kann das gut verstehen. Manche hätten ihre Häuser mit viel Herzblut selbst aufgebaut. Das einfach aufzugeben, sei nicht leicht. „Sie hängen an dem, was sie aufgeben müssen“, sagt er. So verhalte es sich auch mit dem Dom. Er selbst kennt noch den ein oder anderen, der nach dem Zweiten Weltkrieg mitgeholfe­n hat, die von Bomben zerstörte Kirche wieder aufzubauen. Salentin bekommt glasige Augen, als er davon berichtet, wie die Immerather damals Stein für Stein von weit herange- karrt haben, weil sie ihre Kirche zurück haben wollten. „Wenn man das weiß, versteht man auch, wieso Menschen an etwas hängen.“

Die Beziehung der Immerather zu ihrem „Dom“ist immer eng gewesen. Im Jahr 1887 beschloss der damalige Kirchenvor­stand den Neubau von St. Lambertus nach einem Entwurf des Kölner Privatbaum­eisters Erasmus Schüller, weil das alte Kirchengeb­äude den Ansprüchen der prosperier­enden Gemeinde nicht genügte. Der Entwurf sah eine neuromanis­che Basilika vor; 1891 weihte der Kölner Weihbischo­f Antonius Fischer die Kirche mit den zwei markanten, 40 Meter hohen Glockentür­men ein. Die Immerather brannten die Feldbrands­teine selbst und schleppten die Tuffsteine, mit denen die Fassade verblendet ist, zur Baustelle. „Fast jede Familie im Ort hat eine Geschichte, die mit dem Dom verbunden ist“, sagt Salentin. Das Gotteshaus schien für die Ewigkeit gebaut zu sein.

Das Dorf, die Häuser, die Kirche – bald wird Immerath für immer von der Landkarte verschwund­en sein. Und damit die Wurzeln vieler Menschen. „Sie haben dann keine Möglichkei­t mehr, an den Ort ihrer Kindheit und Jugend, zu ihrem Elternhaus zurückzuke­hren. Nie wieder“, betont Salentin und zeigt auf ein großes Feld vor der Kirche, wo früher Häuser gestanden haben. Dabei fällt ihm spontan eine junge Frau ein, die ihren Sohn noch unbedingt vor der Entwidmung im Dom habe taufen lassen, weil auch ihre Eltern und sie selbst dort getauft worden seien. Und sie dort geheiratet habe. „Die Taufe meines Kindes, sagte die Frau mir damals, als sie mir ihre Bitte vortrug, soll meine letzte Erinnerung an die Kirche sein“, erinnert sich Salentin. Das seien emotionale Dinge, die nichts mit materielle­n Werten zu tun hätten und die deshalb auch nicht zu ersetzen seien. Durch keine noch so hohe Entschädig­ungszahlun­g.

Der Dom ist längst ausgeräumt. Die sechs Glocken sind weg, vier davon läuten in der neuen Pfarrkirch­e in Neu-Immerath. Auch ein großer Teil des Innenleben­s ist erhalten geblieben. Ein Missionskr­euz aus dem 14. Jahrhunder­t, eine Madonna und andere, kleine sakrale Gegenständ­e sind ebenfalls mit in die neue Kapelle gekommen. Der Rest des Interieurs, etwa der prachtvoll­e Altar, der zu groß für die Kirche in NeuImmerat­h gewesen ist, steht in anderen Kirchen. Als Salentin den Dom in diesem Zustand zum ersten und einzigen Mal sieht, ist er entsetzt. „Bänke und Figuren weg, Weihwasser­becken aus den Wänden gerissen. Ein Rohbau im umgekehrte­n Sinn. Das ist furchtbar gewesen, wenn man den schönen Raum vorher kannte“, sagt er.

Salentin hat genug von seinem Dom gesehen. Er möchte zurück zum Auto, das vor dem Dorfeingan­g steht, weil alle Straßen nach Immerath mit Bauzäunen versperrt sind. Nur zu Fuß kann man sich noch halbwegs frei durch das Geisterdor­f bewegen. Beim Rückweg erzählt er vom Abschiedsg­ottesdiens­t am 13. Oktober 2013, in dem symbolisch ein Turm aus großen Steinen ab- und aufgebaut worden ist. Zum Glockengel­äut seien Hostiensch­ale, Kelch und Evangeliar aus der Kirche getragen worden. Als Andenken habe jeder Gottesdien­stbesucher einen Stein aus dem Mauerwerk der Kirche bekommen. Bewegende Momente seien das gewesen.

Als er wieder im Auto sitzt, schaut er noch einmal zum Dom. Ein letztes Mal. Zum Abriss will er heute nicht kommen. Es sei Zeit, nach vorne zu blicken.

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FOTO: ANDREAS BRETZ Pfarrer Günter Salentin hat in der Kirche St. Lambertus in Immerath unzählige Gottesdien­ste gefeiert. Ab heute wird der „Dom“abgerissen.
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FOTO: LAASER So sah die Immerather Kirche aus, bevor sie ausgeräumt wurde.

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