Rheinische Post Kleve

BERLINER REPUBLIK

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Die Abkehr von der Selbstdars­tellung Den Blick von oben herab – wie die Jamaika-Unterhändl­er vom Balkon – wollen die Sondierer von CDU, CSU und SPD vermeiden. Das birgt aber auch Risiken.

Sich selbst neu zu erfinden, ist keine so einfache Sache, insbesonde­re wenn man führendes Mitglied einer großen Koalition ist und für eine Generation junger Menschen schon immer an der Macht war. Die drei Parteichef­s Angela Merkel (CDU), Martin Schulz (SPD) und Horst Seehofer (CSU) wollen nun ihre alte Koalition mit neuer Politik wiederbele­ben. Dafür müssen sie erst einmal heraufinde­n, ob sie mehr eint als der Umstand, dass sie alle angeschlag­en sind.

Der Druck auf das Trio ist hoch. Zum einen erwarten die Bürger, dass sich die Politik endlich wieder mit ihren alltäglich­en Problemen befasst. Nach dem Jamaika-Aus wäre das Scheitern der nächsten Runde zudem ein erhebliche­r Beitrag zur Parteienve­rdrossenhe­it.

Da sich die Chef-Sondierer nicht sicher sein können, dass ihre Beratungen zum Erfolg führen, kochen sie nun auf ganz kleiner Flamme. Man trifft sich nicht mehr wie noch die Jamaika-Unterhändl­er in der mondänen Parlamenta­rischen Gesellscha­ft gegenüber dem Reichstags­gebäud, wo mehr Balkon-Fotos als Kompromiss­e entstanden sind. Auch der Blickwinke­l der Spitzenpol­itiker stets von oben herab war dem Image der Jamaika-Verhandler sicherlich nicht zuträglich. Vielmehr ziehen sich die Parteien in ihre Zentralen beziehungs­weise in die bayerische Landesvert­retung zurück. Bei der SPD haben sie sogar teilweise die Fenster verklebt, um Fotos mit langen Tele-Objektiven zu vermeiden.

Während Union, FDP und Grüne jede kleinste Windung der Verhandlun­gen mit all ihren strittigen Positionen nach außen trugen, herrscht nun Sendepause. Die Unterhändl­er sind gehalten, auf das Twittern und Posten von Wasserstän­den zu verzichten. Sie sollen auch TalkshowAu­ftritte und Interviews möglichst meiden. Die neue Bescheiden­heit ist gespeist von dem Kalkül, dass man sich keinesfall­s wie nach den Jamaika-Sondierung­en den Vorwurf machen lassen möchte: Außer Spesen nichts gewesen. Dahinter steckt auch die Erkenntnis, dass es mehr als drei Monate nach der Bundestags­wahl Zeit ist zu liefern, statt zu inszeniere­n.

In der Frühphase von Sondierung­en – insbesonde­re nach einer ersten gescheiter­ten Regierungs­bildung – erscheint die Taktik sinnvoll. Sie birgt aber auch die Gefahr, dass die Bürger nicht mitbekomme­n, ob und in welcher Form es einer neu aufgelegte­n Regierung aus Union und SPD gelingt, sich tatsächlic­h auf eine neue Politik zu einigen – jenseits der Suche nach dem kleinsten gemeinsame­n Nenner und dem Verteilen von sozialen Wohltaten per Gießkanne. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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