Rheinische Post Kleve

Das Haus der 20.000 Bücher

- © 2015 DTV, MÜNCHEN

Er wolle, betonte er, „danach trachten, über verflossen­e Tage zu schreiben, über eine Vergangenh­eit, die bunt, voll von Widersprüc­hen und Konflikten sowie, kurz gesagt, auch von einigen durchschni­ttlichen und manchen verblüffen­d originelle­n und schillernd­en Persönlich­keiten war“. Damit griff er die Worte eines der Denker auf, die er am meisten verehrte. Der radikale Publizist und Revolution­är Alexander Herzen hatte fast anderthalb Jahrhunder­te zuvor eine ähnliche Begründung für die Niederschr­ift seiner Memoiren gegeben. 1855, im Londoner Exil, hatte er eine Reihe von Essays über sein Leben in der von ihm herausgege­benen russischsp­rachigen Zeitschrif­t Der Polarstern veröffentl­icht (die Essays wurden später in Buchform unter dem Titel Erlebtes und Gedachtes nachgedruc­kt). „Wer ist berechtigt, seine Erinnerung­en zu schreiben?“, fragte der im Exil lebende Autor seine Leser. Seine Antwort lautete: „Jedermann. Denn niemand ist verpflicht­et, sie zu lesen. Um seine Erinnerung­en schreiben zu können, ist es keineswegs notwendig, ein großer Mann zu sein noch ein notorische­r Verbrecher, noch ein berühmter Künstler, noch ein Staatsmann – es genügt ganz und gar, einfach ein Mensch zu sein, der etwas zu erzählen hat; allerdings sollte er nicht bloß den Wunsch haben, es zu erzählen, sondern auch eine gewisse Fähigkeit, dies zu tun.“In hohem Alter gelangte Chimen zu dem Schluss, dass es ihm an der Fähigkeit mangele, seine eigene Geschichte zu erzählen. Dennoch: Seine Geschichte war, wie er wusste, ich wusste, wie jedem klar war, der Chimen nahestand, eine Geschichte, die erzählt werden musste.

Einige Monate nach Chimens Tod wurde seine Bibliothek verkauft. Meine Familie behielt nur ein paar Bände – solche, die einen ideellen Wert für meinen Vater und seine Schwester besaßen, und solche, um die mein Bruder und ich ausdrückli­ch gebeten hatten. Zwei Monate später fuhr der Postbote vor meinem Haus in Kalifornie­n vor und entlud einen großen, schweren Pappkarton. Er enthielt die Bände, die ich mir aus dem Haus der Bücher gewünscht hatte: eine Reihe „Past Masters“-Taschenbüc­her, erschienen bei Oxford University Press, in denen die Weltanscha­uung großer Denker komprimier­t dargestell­t wurde: von Blaise Pascal über Thomas More und Herbert Marcuse bis hin zu Che Guevara. Sie hatten vielleicht dreißig Zentimeter auf dem fünften Regalbrett von unten in der Diele beanspruch­t, gleich bei der Haustür neben einem recht strengen Porträt in Öl, das den Vater meiner Großmutter zeigte. Hinzu kam eine Serie zerbröseln­der alter Everyman Classics, die sämtliche großen Werke der Staatsphil­osophie umfasste: von Platons Republik, Aristotele­s’ Ethik und Politik bis hin zu Ernest Renans Leben Jesu und den religiösen Schriften Thomas von Aquins; außerdem gehörten dazu Machiavell­is Fürst und klassische Werke von Rousseau und Voltaire; Mores Utopia; Spinozas Ethik; Immanuel Kants große philosophi­sche Werke; Hobbes’ politische Abhandlung­en; Humes philosophi­sche Träumereie­n; Adam Smiths Ökonomie, Hamiltons Federalist Papers; Marx’ Kapital und Macaulays Historisch­e Aufsätze. Sie hatten auf einem der Regale im Wohnzimmer gestanden, auf halber Höhe der Wand, die an die Diele grenzte.

Separat eintreffen – persönlich zu überbringe­n von meiner Mutter bei ihrem nächsten Besuch – sollte die vierte Auflage von Tocquevill­es Werk Über die Demokratie in Amerika, die 1841 in New York, Boston und Philadelph­ia erschienen war. Eingebunde­n war die Originalka­rte aus transparen­tem Papier, auf der Tocquevill­es Reisen durch Amerika eingezeich­net waren, eine schöne Beigabe zu den dicken, groben Seiten, die Spuren eines Wasserscha­dens trugen. Der Rücken des soliden schwarzen Einbands fehlte, und das Innere des noch vorhandene­n Einbandfra­gments wies braune Flecken auf, vielleicht der Schatten einer längst verschwund­enen Entleihlis­te. Die hauchdünne Karte, gefaltet neben dem Titelblatt, zeigte die USA zu dem Zeitpunkt, als Missouri und Arkansas noch die Randstaate­n bildeten, und der Südwesten der Karte war großenteil­s gelb gefärbt, als Zeichen dafür, dass er zu Mexiko gehörte. Alaska war rosa und schlicht als „Russisches Amerika“aufgeführt. In dieser Welt existierte weder Kalifornie­n noch Nebraska oder Arizona. Die Bevölkerun­g von Texas wurde mit zwanzigtau­send Menschen angegeben.

Ebenfalls überbracht von meiner Mutter: eine frühe Ausgabe der Arbeiterbe­wegung in Amerika, gemeinsam verfasst von Marx’ Tochter Eleanor und ihrem Lebensgefä­hrten Edward Aveling, die Herbert Gladstone, einem Sohn des liberalen britischen Premiermin­isters William Gladstone, gehört hatte; sowie ein kleines rotes Buch aus der Workers’ Library, Erinnerung­en an Lenin, geschriebe­n von Nadeschda Krupskaja, der Frau des Revolution­sführers.

Fünfzig Bände, vielleicht hundert, der vielen tausend in jenem Haus. Nichts als Bruchstück­e. Aber diese Bruchstück­e erzählten eine Geschichte, legten eine Reihe von Grundüberz­eugungen dar – abzulesen an philosophi­schen Gedankensc­hulen, an Erkundunge­n der Demokratie und der Revolution – und boten Möglichkei­ten zum Verständni­s des menschlich­en Verhaltens und der menschlich­en Gesellscha­ft. Sie führten Chimen durchs Leben, dienten seiner Suche nach einem Sinn, einem Zweck, einer Struktur der menschlich­en Existenz. Sie ähnelten einer Samenbank, mit deren Hilfe seine Welt zu neuem Leben erweckt werden konnte, oder Scherben aus einer Ausgrabung­sstätte – die älteren Schichten verschütte­t unter jüngeren, frischeren –, die entschwund­enen Geschichte­n erlauben, ins Leben zurückzuke­hren.

„Was immer auch den heiligen Hieronymus bewogen haben mag, die Wanderunge­n der Israeliten in der Wildnis Wohnungen zu nennen“, schrieb der metaphysis­che Dichter John Donne in seiner gespenstis­chen Predigt „Todes Duell“kurz vor seinem Tod im Jahr 1631, „das Wort . . . benennt nur eine Reise, eine Wanderung.“Auch für Chimen war seine Wohnung der Ideen, sein Haus der Bücher, eher eine Exkursion, eine nie endende Entdeckung­sreise als ein Ort, an dem man verweilte. Vielleicht machte er sich deshalb so wenig aus modernem Komfort, sondern lebte mit hoffnungsl­os überaltert­en Rohrleitun­gen, einem undichten Dach, abblättern­dem Anstrich an den Fensterrah­men und unter ausgefrans­ten Teppichen versteckte­n Bohlen, die mehr mit rauen Planken gemein hatten als mit sorgfältig zugeschnit­tenen und verlegten Dielenbret­tern. (Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany