Das Haus der 20.000 Bücher
Sein geradezu übernatürliches Erinnerungsvermögen sollte Yehezkel seinem drittgeborenen Sohn Chimen vererben; dieser wurde nach einem längst verstorbenen Urgroßvater benannt, der zur Welt gekommen war, als Napoleons Grande Armée in Russland einmarschierte. Auch mit den Gedächtnisstützen, die Jeschiwa-Schüler wie Yehezkel erlernten, wurde Chimen vertraut gemacht. Solche Hilfsmittel dienten dazu, die Gemara zu meistern (also den Teil des Talmud, der aus rabbinischen Kommentaren zur Mischna besteht, der mündlichen Überlieferung des Gesetzes, das die großen Weisen des Frühjudentums jahrhundertelang weitergegeben haben); eines davon war eine Form der Frage-und-AntwortMethode, bei der Lehrer Versziffern riefen und Schüler die entsprechenden Verse rezitierten. In einer anderen Variante erklangen im Sprechchor Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Jiddische und zurück ins Hebräische. Später beeindruckte Chimen seine Kinder damit, dass er lange Zahlenreihen vortrug, die sie niederschrieben und die er nach ein paar Minuten fehlerlos wiederholte. Sie nahmen an, er habe sich einfach x-beliebige Zahlen eingeprägt. In Wirklichkeit hatte Chimen, wie er später enthüllte – ähnlich einem Zauberkünstler, der seine Tricks preisgab –, Bibelverse rezitiert, wobei er die Buchstaben der einzelnen Wörter in ihrer numerischen Entsprechung im hebräischen Alphabet wiedergegeben hatte. Wenn er dann gebeten wurde, die Zahlenreihe zu wiederholen, hatte er die ausgewählten Verse erneut in ihre numerische Form umgewandelt. Aus seinem Mund mochten Zahlen hervorsprudeln, doch da- hinter standen Worte aus der Bibel.
In den seltenen Fällen, in denen Chimen eine Frage nicht spontan beantworten konnte, wusste er genau, welches unter seinen Zehntausenden von Büchern die Lösung enthielt, auf welcher Seite sie sich verbarg und wo auf seinen vielen Regalen, in denen die Bücher oft doppelreihig standen, das Werk zu finden war. „Ich bin ja nur ein kleiner Mann“, sagte er oftmals, „aber ich weiß etwas über . . .“Ein Lächeln des Stolzes breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er das Ausmaß der Verblüffung seines Publikums abschätzte und einen Schwall von Informationen zu dem betreffenden Thema oder Ereignis losließ.
Wenn Chimen über Voltaire oder Maimonides sprach, über Schabbtai Zvi, den selbst ernannten jüdischen Messias des 17. Jahrhunderts, oder über Marx, dann erwartete man beinah, dass diese Giganten der Geschichte an die Tür klopfen und durch die Diele ins Esszimmer schlendern würden, um sich an der Diskussion zu beteiligen. Ich malte mir aus, wie sich ihnen dort die Chorsänger der Geschichte anschlossen, zweitrangige Denker wie Harold Laski oder der deutsche Sozialist Karl Kautsky, Revolutionäre wie David Rjasanow und Clara Zetkin. In Chimens Augen, eines Mannes, der im vorrevolutionären Russland geboren worden war, der als Kind Bürgerkrieg und Hungersnot erlebt hatte und dessen Entwicklungsjahre mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust zusammengefallen waren, gaben diese Theorien und Philosophien, diese Begriffe und Bücher der Welt eine feste Struktur; sie wehrten das Chaos, die Anarchie, die Fürchterlichkeit des Daseins ab.
Es kam nicht häufig vor, aber wenn mein Großvater etwas nicht wusste, konnte er auch ins Blaue schwadronieren. So versicherte er zum Beispiel meinem jüngeren Bruder, dass sich Schmetterlinge in Raupen verwandelten; oder er sprach den englischen Box-Superstar Frank Bruno, der in der Nachbarschaft wohnte, eines Tages auf der Straße an, um mit ihm über den Boxsport zu plaudern. Ich bezweifle sehr, dass Chimen, abgesehen von Schlagzeilen und Fotos in der Zeitung, auch nur entfernt mit dem Thema vertraut war. Danach jedoch begrüßte Bruno den „Prof“stets herzlich, wenn sie einander über den Weg liefen. Ein anderes Beispiel war die Fachsimpelei, auf die sich Chimen, schon als sehr alter Mann, mit Peter, dem Cousin meines Vaters, einließ. Es ging um die Frage, ob der englische Fußballstar David Beckham nach Los Angeles überwechseln und für LA Galaxy spielen solle. Während Peter sein ganzes Leben lang Fußballfan gewesen war, hatte Chimen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie einen Ball gekickt, geschweige denn sich in ein Stadion verirrt.
„Wahre geistige Werte zu erlangen, das heißt vollkommene geistige Ideen, ist nur einem Menschen möglich, dessen moralischer Charakter hinreichend geschult ist und der Würde und Ausgewogenheit besitzt“, schrieb der spanisch-jüdische Philosoph und Ethiker Maimonides 1190 in seinem Führer der Unschlüssigen. Nur ein solcher Mensch sei zu wahrer Erleuchtung fähig, zum Verständnis der großen Mysterien des Lebens und der moralischen Grundsätze, auf denen die Gesellschaft beruhe. Für Maimonides existierte Gott außerhalb der Zeit, unwandelbar, nicht als Person mit einer physischen Präsenz, sondern vielmehr als Idee. Aber gerade diese unwandelbare Wesenheit erlaube der Welt zu existieren, sei die Quelle all ihrer Dynamik.
Chimen betrachtete Maimonides als Leitstern, als einen der großen Philosophen, aus deren Einsichten die Moderne habe hervorgehen können. Man ersetze Gott durch „Kräfte der Geschichte“, und es wird möglich, Chimens Weltanschauung zu verstehen. Er glaubte, dass diese mächtigen Kräfte den Alltag gestalteten und dass man ihre Unermesslichkeit nur durch enorme intellektuelle Anstrengung ergründen könne. Während sich Talmud-Gelehrte darauf konzentrierten, Gottes Willen im Anschluss an die Schöpfung zu deuten, war Chimen besessen davon, den Willen der Geschichte zu interpretieren. Als Historiker und Metaphysiker faszinierte ihn Hegels Idee von der Dialektik der Geschichte, vom Kampf der Gegensätze, der neue Welten zum Leben erweckt – der Dreifaltigkeit von These, Antithese und Synthese; ebenso fesselte ihn Marx’ Darstellung der Triebkräfte der Geschichte – mächtiger, unpersönlicher Wirtschaftsmotoren, die geradezu unvermeidlich auf menschliche Gesellschaften einwirken.
Chimen selbst war, wie er nur zu gut wusste, in den Schmelztiegel der Geschichte hineingeboren worden: Seine Angehörigen waren während des Ersten Weltkriegs an der Ostfront zwischen gegnerischen Armeen eingeschlossen gewesen, und Pogrome hatten ihre Gemeinden verwüstet; zudem war ihr Leben durch Revolution und Bürgerkrieg auf den Kopf gestellt worden.
(Fortsetzung folgt)