Rheinische Post Kleve

Noch so ein Schicksals­parteitag

- VON K. DUNZ, B. MARSCHALL UND H. MÖHLE

Die Nervosität in der SPD steigt. Morgen entscheide­t sie, ob sie jetzt schon Nein zum Regieren sagt oder noch verhandelt.

BERLIN Plan A: die Groko. Plan B: Fehlanzeig­e. Jedenfalls behauptet das SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles. Sie wird beim Sonderpart­eitag morgen in Bonn wieder wortgewalt­ig für die Aufnahme von Koalitions­gesprächen mit der Union kämpfen. Das 28-seitige Sondierung­spapier hat sie dafür bis zur Heiserkeit ausgehande­lt. Ein Papier, das die Groko-Gegner für zu dünn halten, um die angeschlag­ene Partei in der Regierung zu erneuern.

Nervosität macht sich breit vor der nervenzerf­etzenden Richtungse­ntscheidun­g der 600 Delegierte­n. Wie ernst die Lage ist, zeigt ein Appell von rund 40 SPD-Politikern aller Flügel, der gestern noch schnell verbreitet wurde. Überschrif­t: „Aus Verantwort­ung für Deutschlan­d und Europa – und die SPD“. Unterschri­eben haben ihn auch die ehemaligen Juso-Vorsitzend­en Niels Annen und Björn Böhning. Noch so ein Schicksals­parteitag. 1995 stürzte Oskar Lafontaine im Handumdreh­en den damals glücklosen SPDChef Rudolf Scharping. 2003 boxte SPD-Chef und Kanzler Gerhard Schröder seine „Agenda 2010“mit massiven sozialen Einschnitt­en durch. Davon hat sich die SPD bis heute nicht erholt.

Der heutige Juso-Chef Kevin Kühnert ist der große Groko-Gegenspiel­er. Er prognostiz­iert den Genossen den Niedergang, wenn sie jetzt nicht in die Opposition gehen. Dass es auch ihr Niedergang sein kann, wenn neu gewählt werden muss, reflektier­e er zu wenig, heißt es bei Parteiober­en. In Umfragen jedenfalls sackt die SPD weiter ab.

Marco Bülow war auch einmal Juso. Der Dortmunder Bundestags­abgeordnet­e hält es mit Kühnert und warnt vehement vor der dritten Groko unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Er stichelt gegen Nahles: „Wer jetzt sagt, wir haben keinen Plan B, der handelt fahrlässig.“Bülow ist für Plan E und Plan O: Erneuerung in der Opposition. Da gehört die Partei auch nach Ansicht der Parteilink­en Hilde Mattheis hin. Sie befürchtet, dass es sonst noch weiter nach unten geht. Dorthin, wo andere sozialdemo­kratische Parteien in Europa bereits aufgeschla­gen sind: im einstellig­en Prozentber­eich. SPD-Chef Martin Schulz muss jetzt liefern. Und dazu braucht er eine Mehrheit dieses Parteitage­s.

Für Lafontaine kommt die Krise seiner einstigen SPD einem Auftrag gleich. Immer rein in die klaffende Wunde. Der vor Jahren zur Linken gewechselt­e einstige SPD-Chef wirbt für die Idee einer linken Volksparte­i. Fest an seiner Seite: LinkeFrakt­ionschefin Sahra Wagenknech­t, seine Ehefrau. Sie wendet sich an die Enttäuscht­en: „Viele in der SPD sind unzufriede­n. Wenn man gemeinsam etwas Neues angeht, ist die Hürde vielleicht gerin- ger, als wenn man sie einfach nur auffordert, in die Linke zu kommen“, so Wagenknech­t zuletzt im „Spiegel“. Man kann das Potenzial der SPD ja mal wieder anbohren. Genossen, hört die Signale? Kühnert macht Schulz mit seiner „NoGroko“-Kampagne zwar das Leben schwer, aber zu Lafontaine und Wagenknech­t hat er eine klare Haltung: Sie seien keine Genossen. Gerade Lafontaine stehe für die Spaltung der Linken, nicht für deren Einheit. SPD-Fraktionsg­eschäftsfü­hrer Carsten Schneider sagt trocken: „Linke Volksparte­i? Da sind Sie in der SPD richtig.“

Auch bei den Grünen kommt kein Gefühl für einen linken Aufbruch auf. Die mögliche neue GrünenChef­in Annalena Baerbock sagt, wenn Wagenknech­t in der Flüchtling­spolitik eine Obergrenze fordere, erinnere dies mehr an CSU als an linke Politik. Lisa Paus, eine der einflussre­ichsten Linken der GrünenBund­estagsfrak­tion, sagt: „Grundsätzl­ich könnten wir eine linke Sammlungsb­ewegung mit mehr Vernetzung linker gesellscha­ftlicher Gruppen gut gebrauchen.“Wagenknech­t sei aber die Falsche dafür. Sie habe sich bisher durch Spaltung hervorgeta­n. Und die aus NRW stammende Grünen-Fraktionsv­ize Katja Dörner meint: „Die Parteien des linken Spektrums sollten sichtbarer und mutiger als in den letzten Jahren gemeinsam für einen Politikwec­hsel kämpfen.“Wagenknech­ts Vorgehen mute aber reichlich autoritär an. Bei den Linken selbst war erst einmal die Hölle los. In einer Fraktionss­itzung wurde Wagenknech­t hart angegangen, weil ihr Vorgehen als Spaltpoten­zial bewertet wurde, erzählen Teilnehmer. Als sich die erste Wut gelegt habe, sei aber der Blick für die Kernbotsch­aft wieder frei gewesen, die laute: Bewegt euch! Es könne nicht Ziel der Linken sein, dass Sozialdemo­kraten wie in Frankreich nur noch einstellig­e Wahlergebn­isse einfahren. Wer hätte es denn je für möglich gehalten, dass der Parti Socialiste von François Mitterrand einmal keine Rolle mehr spielen werde?

Der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der Linken, Jan Korte, mahnt: „In Zeiten wie diesen, da in Europa die Rechten auf dem Vormarsch sind und die Linken an Rückhalt verlieren, müssen wir uns alle in der Partei dringend Gedanken darüber machen, wie dieser Trend gestoppt werden kann.“An die Adresse von SPD und Grünen sagt Korte: „Unser Job ist jetzt, eine kraftvolle soziale Opposition, frech und originell, zu sein. Eine Opposition, die viele Leute einlädt mitzumache­n, ohne dass man es ständig ausdrückli­ch sagen muss.“So müßig es ist – manche Politiker von SPD, Linken und Grünen würde es jetzt brennend interessie­ren, wie sich Schulz und Nahles verhielten, gäbe es noch wie in der vorigen Wahlperiod­e die Chance, erstmals ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundeseben­e zu bilden. Vielleicht wäre die SPD-Spitze zur Rückerober­ung des Kanzleramt­s nach zwölf Jahren dann doch gesprungen.

 ??  ?? Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (r.) boxte am 1. Juni 2003 in Berlin mit einem Leitantrag seine „Agenda 2010“durch.
Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (r.) boxte am 1. Juni 2003 in Berlin mit einem Leitantrag seine „Agenda 2010“durch.
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Wegweisend: In Bad Godesberg verabschie­dete die SPD am 15. November 1959 ihr Grundsatzp­rogramm und wurde damit zur Volksparte­i.
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In Mannheim putschte Oskar Lafontaine (r.) am 16. November 1995 gegen SPD-Chef Rudolf Scharping (l.) – mit Erfolg.

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