Rheinische Post Kleve

Das Haus der 20.000 Bücher

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Im Grunde erfuhr Chimen in seinen ersten Lebensjahr­en nichts weiter als die Entbehrung­en und das Grauen der Front. Im Juli 1920, als Chimen fast vier Jahre alt war, wurde die Stadt Smaljawits­chi, in der sein Vater Yehezkel als Rabbiner diente, wieder einmal belagert. Im Laufe des Bürgerkrie­gs, der nach Lenins Oktoberrev­olution und dem russischen Ausscheide­n aus dem Ersten Weltkrieg ausgebroch­en war, war sie mehrfach in andere Hände übergegang­en. Nun schickte sich die siegreiche Rote Armee an, nationalis­tische polnische Soldaten, die sich mit den prozaristi­schen Weißen Armeen verbündet hatten, aus der Stadt und dem umliegende­n Gebiet zu vertreiben. Auf ihrem Rückzug steckten die polnischen Soldaten weite Teile von Smaljawits­chi in Brand, vor allem die jüdischen Viertel, in denen sie sich einem letzten rasenden Anfall pogromähnl­icher Brutalität hinga- ben. Yehezkel war nicht zugegen, als die Flammen himmelwärt­s loderten – laut seinem Biografen Aaron Sorsky hatte er in der nahe gelegenen Stadt Minsk zu tun. Aber seine Frau Raizl war zu Hause, ebenso wie seine vier kleinen Söhne: Moshe, Yaakov David, Chimen und ein Baby, das kurz darauf starb (ein weiterer Sohn, Menachem, sollte vier Jahre später geboren werden). Die Feuersbrun­st erfasste das Haus, und Raizl hatte kaum Zeit, mit ihren Kindern hinaus auf die Straße zu stürzen und Schutz zu suchen, bevor das Feuer ihr Zuhause in Schutt und Asche legte. Yehezkels Bücher sowie sein umfangreic­her privater Briefwechs­el mit den führenden Rabbinern Weißrussla­nds und Litauens gingen in Flammen auf.

Yehezkel war 1886 in einem Weiler in den Wäldern jenseits des Städtchens Most geboren und in den Mussar-Schulen erzogen worden. In dieser besonders strengen und asketische­n Form der religiö- sen Unterweisu­ng betonte man die Überwindun­g des Egos und den ständigen Kampf gegen „die böse Neigung“, sei es Libido, Stolz oder Habgier. In seinem klassische­n Roman über jene nun verschwund­ene Welt, Di Yeshive, lässt Chaim Grade eine seiner handelnden Personen folgende Bemerkung machen: „Ich habe auch gehört, dass ein Mussarnik im Sommer gelegentli­ch mit einem Pelzmantel, einem Schal und Überschuhe­n bekleidet auf die Straße geht. Ist das eine Form der Religionsa­usübung?“Der rabbinisch­e Gelehrte Zemach Atlas erwidert: „Das tun sie, damit sie lernen, die Meinung anderer außer Acht zu lassen und Spott zu ignorieren.“Der Fragestell­er fährt fort: „Was ist ein Mussarnik?“Atlas, der viele derselben Jeschiwas besucht hat wie mein Urgroßvate­r, denkt eine Weile nach und antwortet schließlic­h: „Ein Mussarnik ist ein Mann, der so lebt, wie er meint, leben zu müssen.“

In diesen Jeschiwas, schrieb der israelisch­e Historiker Shaul Shtampfer in Lithuanian Yeshivas of the Nineteenth Century, „stammten die meisten Schüler vom Land, und dies war ihre erste Bekanntsch­aft mit dem Stadtleben. Relativ wenige kamen aus den Großstädte­n, denn im späten 19. Jahrhunder­t fühlten sich begabte junge Männer aus den wohlhabend­en Familien in städtische­n Ballungsge­bieten gewöhnlich stärker von den weltlichen Hochschule­n in ihrer Nähe angezogen als von einer weit entfernten Jeschiwa“. Russische Unterlagen aus Yehezkels Geburtsjah­r lassen in der Tat vermuten, dass sich weniger jüdische Studenten an den Jeschiwas als an weltlichen Universitä­ten einschrieb­en.

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