Das Haus der 20.000 Bücher
Abhandlungen von Trotzki und Rosa Luxemburg (darunter das Typoskript ihrer Doktorarbeit); Originaldokumente der revolutionären Chartisten-Bewegung der 1830er und 1840er Jahre, deren Mitglieder für wichtige Reformen nicht nur auf die Straße gegangen waren, sondern auch unter Körpereinsatz gekämpft hatten: für das Wahlrecht, für wirtschaftliche Würde, für die Zulassung von Gewerkschaften und für ein Parlament, das nicht die Interessen korrupter Kapitalisten, sondern die des Volkes vertrat. „Seit dreiundzwanzig Jahren“, schrieben die ersten Chartisten in ihrer Petition an das Parlament im Juli 1838, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Napoleonischen Kriege, „leben wir in tiefem Frieden. Doch trotz all dieser Elemente des nationalen Wohlstands sowie der Bereitschaft und Fähigkeit, Nutzen aus ihnen zu ziehen, sehen wir uns von allgemeinem und privatem Elend überwältigt.“
Um den Märtyrern der Arbeiterklasse vergangener revolutionärer Zeiten seine Ehre zu erweisen, hatte Chimen auf irgendeiner Auktion einen Säbel erworben, der zum Gedenken an die niedergemetzelten Demonstranten auf dem St. Peter’s Field bei Manchester im Jahre 1819, eine Generation vor den Chartisten, geschmiedet worden war. Zu dem sogenannten Peterloo-Massaker war es gekommen, als die Kavallerie in eine riesige Menge hineinpreschte, die sich versammelt hatte, um parlamentarische Reformen zu fordern. Bei dem Versuch, die Demonstration gewaltsam aufzulösen, wurden achtzehn Menschen getötet und Hunderte verletzt. Die mit Blumenmotiven verzierte Klinge war lang und leicht gekrümmt, der Griff gestreift. Die Spitze erwies sich nach beinahe anderthalb Jahrhunderten immer noch als mörderisch scharf. Chimen hatte die symbolträchtige Waffe so lange behalten, bis ihm der Gedanke kam, dass seine Kinder – Jack war halbwüchsig, und Jenny besuchte noch die Grundschule – sich verletzen konnten. Daraufhin verkaufte er den Säbel.
In zweiter Reihe standen in den Regalen in Chimens und Mimis Schlafzimmer Kostbarkeiten, die bei flüchtiger Betrachtung unsichtbar waren. Wie Flaschengeister, die sich nach der Befreiung sehnten, warteten und warteten die revolutionären Gespenster jahrhundertelangen menschlichen Ringens in Chimens Bänden darauf, dass jemand die Seiten öffnete; sie warteten auf die Gelegenheit, mit einem Satz erneut ans Licht zu gelangen. Bisweilen ließ ein Leser die Geister tatsächlich frei, und dann taten sich verborgene Welten auf. Wenn man die Bücher aufschlug, erwachten die Menschenrechte zum Leben; traten die Grausamkeiten, welche die Arbeiter im 19. Jahrhundert erlitten hatten, zutage. Was Generationen von Revolutionären erstrebt hatten, wurde offenbar. Einander widersprechende und umstrittene Programme für mehr Menschlichkeit standen dicht gedrängt in Chimens Regalen und wetteiferten miteinander – genau so, wie es ihre Verfasser auf politischen Versammlungen, in Cafés und Gasthäusern überall in Europa getan hatten. Bände, in denen das allgemeine Wahlrecht gefordert wurde, standen neben ausführlichen Rechtfertigungen der Diktatur des Proletariats; Lobpreisungen des liberalen Individualismus lagerten neben Texten, in denen man dieselben Individuen, nun jedoch als Masse, mit Schlagworten belegte: das glorreiche Proletariat, die dreckige Bourgeoisie. Ende der fünfziger Jahre bereitete meinem Großvater nichts größeres intellektuelles Vergnügen als seine Fähigkeit, seltene Bücher ausfindig zu machen und zu erwerben. Seine Vorfreude bezog sich nur zum Teil auf das, was er in ihnen lesen würde; er besaß die Inbrunst des wahren Historikers und war ein Kenner kleinster Details. Wenn er ein Buch las, beschränkte er sich nicht auf den Text, sondern begutachtete auch die Fußnoten, den Namen des Verlegers und den Standort der Druckerei – alles Anhaltspunkte, die ihm halfen, das Milieu zu verstehen, in dem das Buch hergestellt worden war. Die Unterschiede zwischen einzelnen Auflagen gaben ihm Einblick in die Gedankenwelt des Verfassers: Wie veränderte sich dessen Haltung zu einer Thematik im Laufe der Zeit? Die Quellenangaben wiederum lieferten ihm die Koordinaten für eine weitere Odyssee im Geiste. Jagdfieber spielte eine ebenso wichtige Rolle. Er durchforstete die alljährlichen Buchauktionsverzeichnisse, um herauszufinden, was auf welchen Auktionen im vergangenen Jahr an wen verkauft worden war. Sein besonderes Augenmerk galt den Verkaufspreisen. So konnte er abschätzen, wie viel er wahrscheinlich für Bücher und Manuskripte aufbringen musste, die er seiner Sammlung hinzufügen wollte. Montags und dienstags besuchte er die Auktionen bei Sotheby’s. Mittwochs hielt Christie’s seine Versteigerungen ab. In der Chancery Lane tauchte er auf, wenn die Buchhandlung Hodgson für ihn interessante Bücher feilbot. In jenen Nachkriegsjahren, erklärte der Raritäten-Buch- händler Christopher Edwards, der Chimen erst Jahrzehnte später kennenlernte, „kamen so viele Bücher auf den Markt. Das Angebot war größer als die Nachfrage“. Dadurch blieben die Preise niedrig. In den fünfziger Jahren konnte Chimen seiner Passion für Bücherkäufe auf eine Art frönen, die unmöglich gewesen wäre, hätte er zwanzig, dreißig Jahre später angefangen zu sammeln. Und wie die anderen sachkundigen Händler in London nutzte er die bei den Auktionshäusern herrschende Unwissenheit, um Bücher billig zu erstehen und sie dann mit einem ansehnlichen Profit an Privatsammler weiterzuveräußern. „Man kann es mit dem Diamantenhandel vergleichen“, erläuterte Edwards. „Eine kleine Gruppe und ein etablierter, nicht sehr gut bekannter Markt, zu dem ausschließlich die Händler Zugang hatten.“Chimen näherte sich Büchern mit dem Zartgefühl eines Kunsthandwerkers, der sich jeder Einzelheit, jedes Mangels, jedes Schönheitsfehlers bewusst war. „Man kann die Ausgabe an dem kleinen Holzschnitt auf Seite 31 und auch auf der Titelseite erkennen“, teilte er seinem Freund und Sammlerkollegen, dem Ökonomen Piero Sraffa, am 23. November 1959 im Hinblick auf eine besonders seltene englische Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1888 mit. „Manche Exemplare enthalten auch einen Druckfehler; nach ,Fleet’ folgen ein Komma und dann die Buchstaben ,St.’. Es gibt viele Nachdrucke, aber mit etwas anderen Holzschnitten. Ich würde ihn sofort erkennen, wenn ich ihn vor mir hätte.“