Rheinische Post Kleve

Wenn die Nerven blank liegen

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Bei einigen neurologis­chen Leiden greift der Körper eigene Strukturen an, etwa bei Multipler Sklerose oder der weniger bekannten CIDP. Neue Ansätze zur Therapie machen die Krankheit für den Patienten deutlich erträglich­er.

In etlichen Fällen erkrankt der Mensch nicht grundlos. Lungenleid­en? Vom vielen Rauchen. Leberschäd­en? Vom maßlosen Trinken. Herz- und Kreislaufl­eiden? Vom fetthaltig­en Essen und ausgiebige­n Sitzen. Schultersc­hmerzen? Von Überkopfar­beiten und falschen Matratzen. Ellenbogen­leiden? Von PC-Arbeit und Tennisspie­len. Knieproble­me? Von Überbelast­ung und Übergewich­t. Tinnitus und Schwerhöri­gkeit? Vom lauten Musikhören. So könnte es endlos weitergehe­n.

Andere Krankheite­n ihrer Patienten aber stellen sogar akribische ärztliche Ursachenfo­rscher vor Probleme. Warum bekommt man Grünen Star? Woher genau kommen Autoimmune­rkrankunge­n, woher der Morbus Bechterew oder die chronisch-entzündlic­hen Darmerkran­kungen? Besonders unergründl­ich scheinen neurologis­che Störungen wie etwa Morbus Parkinson oder die Multiple Sklerose. Mit der komplizier­ten Einschätzb­arkeit der Krankheit sind die Behandlung­sprobleme verbunden: So lange der Humus nicht genau analysiert ist, auf dem die Krankheit wächst, so lange tappt der Arzt auch bei der Therapie im Dunkeln. Bei der CIDP wird eine Isoliersch­icht der Nerven zerstört Bekommt man die Krankheit nicht in den Griff, ist es umso wichtiger, dass der Arzt die Symptome kontrollie­ren kann. Das ist gerade bei neurologis­chen Leiden zuweilen sehr schwierig – etwa bei einer chronische­n Nervenkran­kheit wie der CIDP. Dieses Abkürzungs­monster steht für ein langwierig­es und komplizier­tes Leiden. C bedeutet chronisch. I bedeutet inflammato­risch, also entzündlic­h. P bedeutet Polyneurop­athie, also eine Störung, die viele Nerven betrifft. Das D aber ist der Kern des Übels und führt uns in die Mikroanato­mie der Kabelsträn­ge unseres Körpers.

Damit unsere Nervenkabe­l nicht blank liegen und optimal leiten, sind sie von einer Isoliersch­icht umgeben, einer Biomembran, die man Myelin- oder Markscheid­e nennt. Bei der CIDP wertet der Körper aufgrund noch nicht restlos geklärter Umstände diese Myelinsche­ide als Fremdling, greift sie mit körpereige­nen Truppen an und zerstört sie; es kommt zur sogenannte­n Demyelinis­ierung, dem D des Fachbegrif­fs CIDP.

Es kann sogar zu Schädigung­en der Nervenkabe­l selbst, der sogenannte­n Axone, kommen. Weil der Körper sich selbst attackiert, handelt es sich um eine Autoimmune­rkrankung, wie es viele andere gibt: etwa den Typ-1-Diabetes, die Hashimoto-Thyreoidit­is, die Schuppenfl­echte, die Zöliakie, den Morbus Basedow oder den (beim TVArzt Dr. House) notorische­n Lupus erythemato­des.

Die Selbstzers­etzung hat erhebliche Konsequenz­en: Die normale Steuerung der Nerven über das periphere Nervensyst­em funktionie­rt nicht mehr einwandfre­i, es kommt zu Gefühlsstö­rungen und Muskelschw­äche, vor allem in Armen und Beinen – und zwar immer symmetrisc­h. „Meistens beginnt die Krankheit in den Füßen und Händen und nähert sich dann weiter dem Rumpf“, sagt Professor Hans-Peter Hartung, Direktor der Neurologi- schen Universitä­tsklinik in Düsseldorf und einer der internatio­nal führenden Fachleute für diese Krankheit; seine Abteilung gilt in Europa neben London als „Center of excellence“.

CIDP ist nicht auf lange Frist tödlich wie ALS (die Amyotrophe Lateralskl­erose, an welcher der Maler Jörg Immendorff starb), nicht so variantenr­eich und tückisch wie die Multiple Sklerose, die mit Spastiken einhergeht und im Gegensatz zur CIDP das zentrale Nervensyst­em angreift; nicht so schnell aufflammen­d wie das Guillain-Barré-Syndrom, das oft die Folge einer Infektions­krankheit ist. Die CIDP entwickelt sich langsamer und erreicht ihren ersten Krankheits­gipfel meist nach mindestens zwei Monaten. „Gelegentli­ch gesellt sich ein Tremor der Arme hinzu“, sagt Hartung. Die CIDP ist eine seltene Krankheit; von 100.000 Menschen bekommen sie zwei. Meist manifestie­rt sie sich im Alter zwischen 40 und 60 Jahren.

„Die neue Therapie hat eine Studie sorgfältig geprüft“

Hans-Peter Hartung Immer ist zu prüfen, ob die Symptome andere Ursachen haben Ein Neurologe muss die CIDP immer ins diagnostis­che Kalkül ziehen, wenn jene Neuropathi­en ihre Ursache nicht in einem Diabetes (Zuckerkran­kheit), einer mit Alkoholgen­uss verbundene­n Krankheit (die Abbauprodu­kte von Ethanol lagern sich ab und sind giftig für die Nervenzell­en) oder einer Mangelund Fehlernähr­ung haben; CIDP kann sogar die Folge der medikament­ösen Therapie eines anderen Leidens sein. „Die Erkrankung kann schubförmi­g verlaufen oder sich allmählich und chronisch verschlimm­ern, bis hin zu einer dauerhafte­n Behinderun­g“, so Hartung; sie kann sich aber auch zurückbild­en.

Bei der klinischen Untersuchu­ng schaut der Neurologe die betroffene­n Muskeln sehr genau an: Sind sie verkümmert? Er untersucht, wie der Patient geht, wie gut und kraftvoll er zupacken kann; er kontrollie­rt die Oberfläche­nsensibili­tät und die Muskelrefl­exe, er misst die elektrisch­e Nervenleit­fähigkeit an allen Extremität­en, weil bei einer CIDP ein Impuls über eine Strecke deutlich verlangsam­t oder gar blockiert ist; er erforscht die sensiblen Fasern des Nervs (die ein Gefühl etwa am Fuß ins Gehirn vermitteln) oder die motorische­n Fasern (die einen Impuls aus dem Gehirn an die Hand weitergebe­n).

Ebenfalls untersucht er das Nervenwass­er mit der sogenannte­n Liquorpunk­tion, weil er bei einer CIDP ein bestimmtes Eiweiß im Bereich der Nervenaust­rittswurze­ln findet. Man kann auch den Nerv selbst untersuche­n; dazu entnimmt der Arzt in einer Biopsie ein Ministück Nervenfase­r, und zwar an einem Nerv in der Ferne, den der Mensch von fast allen seinen Nerven nicht so sehr braucht und der gut zugänglich ist: der sogenannte Nervus suralis, er liegt in der Nähe des Fußknöchel­s. „Dieser Eingriff belastet den Patienten aber nur wenig, die Folgen sind in der Regel schon einige Monate später kaum noch zu spüren“, sagt der Fachmann.

Hartung hat mit einigen Kollegen soeben im angesehene­n Fachjourna­l „Lancet“dargelegt, wie sich die CIDP in Zukunft für die Patienten deutlich angenehmer behandeln lässt. Normalerwe­ise gibt man ihnen Cortison, aber immer nur für kurze Zeit, um die zum Teil erhebliche­n Folgeschäd­en durch dauerhaft eingenomme­nes Cortison zu vermeiden, und man führt eine spezielle Blutwäsche durch, die sogenannte Plasmaaust­ausch-Therapie (Plasmapher­ese).

Sehr effektiv ist der Einsatz sogenannte­r Immunglobu­line (Ig), das sind Eiweiß-Antikörper, die dem Körper in eine Vene gespritzt werden. Immunglobu­line können die Angriffe des Immunsyste­ms regulieren und so dafür sorgen, dass sich die Symptome bessern. Immunglobu­line sind fast nebenwirku­ngsfrei und aus etwa 5000 Spenderpla­smen gewonnen und gereinigt, „da steckt das immunologi­sche Gedächtnis von sehr vielen Menschen drin“(Hartung). Einer der Effekte der Immunglobu­lin-Therapie: Die Makrophage­n etwa, die sich als Fresszelle­n an der Myelinsche­ide zu schaffen machen, werden gebremst, überschieß­ende Reaktionen des Immunsyste­ms werden kontrollie­rt.

(Neurologie-Professor)

Für die Behandlung müssen die Patienten nicht mehr reisen Bislang müssen viele Patienten für ihre Immunglobu­lin-Therapie regelmäßig zu einem Neurologen oder gar in weit entfernte spezialisi­erte Behandlung­szentren reisen, zumal die Dosis der Injektion regelmäßig überprüft und neu eingestell­t werden muss. In Ländern mit schlechter medizinisc­her Infrastruk­tur ist das zum Teil mit erhebliche­n Problemen verbunden. Hartung war jetzt an einer Studie beteiligt, in der die Möglichkei­ten einer kontinuier­lichen Ig-Abgabe ins Unterhautf­ettgewebe (subkutan, also unter die Haut) geprüft wurde – die Ergebnisse waren bedeutend und glichen jenen mit intravenös­er Anwendung.

Wie funktionie­rt das Verfahren? Bei der subkutanen Therapie wird eine kleine elektronis­che Pumpe am Bauch befestigt, die eine Zuführung unter die Haut besitzt. Zu festgelegt­en Zeitpunkte­n oder kontinuier­lich entlässt sie Immunglobu­line ins Fettgewebe. Solche Pumpen gibt es mittlerwei­le bei verschiede­nen Krankheite­n – bei der CIDP ist sie möglicherw­eise ein sehr wichtiger Schritt zur Kontrolle der Krankheit. Und sie ist glückliche­rweise bereits zugelassen.

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