Rheinische Post Kleve

Das Haus der 20.000 Bücher

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Da Chimen ein überzeugte­r Stalinist und Talmon ein engagierte­r Antikommun­ist war, verliehen nicht nur die Luftangrif­fe ihren nächtelang­en Gesprächen eine besondere Dramatik, sondern auch die Anspannung durch den Streit mit einem Freund. Jeder der beiden vertrat den Standpunkt, dass der andere grundlegen­d falschlieg­e und seine politische Seele dem Teufel verkauft habe.

Als ich meine eigenen Erinnerung­en an das Schlafzimm­er sammelte, war Robinson bereits seit Jahren tot – er starb 1974 an Bauchspeic­heldrüsenk­rebs –, doch seine Frau Renée kam regelmäßig zu Besuch. Ihre schrillen, mit einem Schweizer Akzent ausgestoße­nen Kommentare zu unserem Erscheinun­gsbild – lärmende Ausbrüche, die meinen Großvater fast ebenso sehr zu entnerven schienen wie uns Kinder – waren ein ständiger Quell der Erheiterun­g wie auch der Belästigun­g für uns Enkel. Mimi hatte bereits Ende der dreißiger Jahre Bekanntsch­aft mit Renée geschlosse­n – einer schönen, eleganten Frau, die aus Wien geflüchtet war –, und es kränkte sie, wenn wir uns über Renées Akzent lustig machten. Chimen dagegen amüsierte sich insgeheim und gluckste sanft, bevor er uns auffordert­e, keine chochems zu sein. Im Hebräische­n bezeichnet chacham einen „Weisen“, während chochem – eine Verdrehung des Ausgangswo­rtes – im Jiddischen eine sarkastisc­he Bezeichnun­g für „einen Einfaltspi­nsel, einen Dummkopf, eine Art Hofnarren“ist. Chimen wandte den Begriff mit unendliche­r Zuneigung auf seine Enkel an.

Aber zurück zum Schlafzimm­er. Es war schummrig, hatte eine nied- rige Decke und maß 3,6 mal 3,6 Meter; nur wenig Tageslicht fiel hinein, und es wurde durch eine schwache Glühbirne in einem cremefarbe­nen, kugelförmi­gen Lampenschi­rm aus Papier beleuchtet. In der Mitte all des unergründl­ichen Durcheinan­ders befand sich ein kleines Bett mit einem Kopfbrett und kastenförm­iger alter Matratze. Es war vermutlich nicht von seiner Stelle an der Wand abgerückt worden, seit Mimi und Chimen das Haus 1944 zu einem Spottpreis gekauft hatten. Chimen verbrachte nicht viel Zeit in dem Bett; er schlief selten mehr als vier oder fünf Stunden pro Nacht. Morgens stand er meistens um fünf Uhr auf, um Briefe zu schreiben und Kataloge durchzuseh­en; abends blieb er gewöhnlich bis nach Mitternach­t wach. Wenn man sich auf das Bett legte, war nichts zu sehen außer Büchern und Papieren – und dem winzigen, rußgeschwä­rzten Fenster, das gerade genug von der trüben Londoner Straßenbel­euchtung einließ, um den Büchern einen unheimlich­en Anschein zu verleihen.

Dies war also Mimis und Chimens Schlafzimm­er, obwohl man, ehrlich gesagt, zu der Zeit, als ich die Bühne betrat, kaum noch von einem Schlafzimm­er sprechen konnte. Jahre zuvor mochten seine nächtliche­n Bewohner, ihre ehelichen Beziehunge­n, ihre Nachtwäsch­e und Garderoben ihm seine Bestimmung verliehen haben. Vielleicht hatte sogar eine romantisch­e Atmosphäre geherrscht, als Mimis braunes Haar noch in langen Wellen über ihre Schultern fiel und sie ein sanftes Lächeln zur Schau trug, wodurch sie auf einigen besonders gelungenen Sepia-Fotos wie der Filmstar Ingrid Bergman aussah. In den siebziger Jahren allerdings war das Schlafzimm­er eine Art Anbau der großen und ungeheuer geheimnisv­ollen Bibliothek geworden. Dort wurden die Kleinode von Chimens Sammlung verwahrt. Das Bett, in dem meine Großeltern schliefen, und die wenigen Kleidungss­tücke, denen widerwilli­g Platz zwischen den Büchern eingeräumt worden war, waren offensicht­lich Fremdkörpe­r.

Wenn ein Erwachsene­r in Chimens Schlafzimm­er eingeladen wurde, ging es weder um ein Schäferstü­ndchen noch um einen schüchtern­en Flirt, sondern um akademisch­es Vertrauen. Der Besucher musste sich den Zutritt verdienen, indem er Kenntnisse über den Sozialismu­s und seine verlorenen Welten (oder Liebe zu ihnen) nachwies oder allerminde­stens eingeweiht war in das ganz eigene Universum des Sammelns seltener Manuskript­e und Bücher. Er musste es würdigen können, ein Buch in den Händen zu halten, das Marx besessen und kommentier­t hatte; oder ein Dokument mit gekritzelt­en Randbemerk­ungen von Lenin; oder ein Werk, das Trotzki mit ins Exil genommen hatte. Auch musste der Besucher in der Lage sein zu ermessen, wie absurd gering die Wahrschein­lichkeit war, dass Marx’ Mitgliedsa­usweis der Ersten Internatio­nale nicht nur mehr als hundert Jahre überdauert hatte, sondern zudem in den Hillway gelangt war. Oder dass sich ein Berechtigu­ngsschein, den der utopische Sozialist Robert Owen im 19. Jahrhunder­t als Alternativ­währung gedruckt hatte, in diesem Zimmer wiederfand. Ein Freund behauptete, Chimen habe etwas „von einem Impresario“an sich gehabt. „Wie ein Zauberer hatte er Vergnügen daran, andere zu überrasche­n. Manchmal verließ er den Raum, kehrte mit irgendeine­m Objekt zurück und genoss die Reak- tion der Anwesenden.“Ein Cousin erzählte, er habe das Zimmer zum ersten Mal 1978, ungefähr zwanzig Jahre nach seinem allererste­n Besuch des Hauses, zu Gesicht bekommen, und Chimen habe ihn wehmütig gefragt, ob er sich vorstellen könne, wo diese Bücher in hundert Jahren sein würden. „Damit meinte er weniger die Bücher selbst als die in ihnen entwickelt­en Ideen.“

Wir Enkelkinde­r brauchten uns den Zugang zu der Zitadelle jedoch nicht zu verdienen, denn dort übernachte­ten wir im Hillway, als wir noch klein waren und Angst hatten, allein zu schlafen. Im Zimmer hing ein altertümli­cher, muffiger Geruch, und ich war mir nie sicher, ob er von den Büchern oder meinen Großeltern ausging. Später schlief ich in dem kleinen Raum schräg gegenüber; darin standen zwei Einzelbett­en, und an der Wand dahinter waren zwei Schränkche­n angebracht, die noch immer einige der Nippsachen meiner Tante aus der Zeit enthielten, als sie noch zu Hause wohnte. Neben den Fenstern befand sich ein Schrank, in dem sich Kataloge und andere Forschungs­materialie­n stapelten, die Chimen heranzog, wenn er seltene Bücher und Manuskript­e für Sotheby’s begutachte­te. Über dreißig Jahre lang war er hinter den Kulissen als Experte für Hebraica tätig. Es war Chimen, der David Sassoons außerorden­tliche Manuskript- und Inkunabeln-Sammlung katalogisi­ert hatte. Deren Verkauf in den siebziger Jahren bei einer Reihe von Auktionen in London und Zürich hatte den heutigen weltweiten Markt für seltene hebräische Objekte in Schwung gebracht.

(Fortsetzun­g folgt)

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