Rheinische Post Kleve

Kann denn Busfahren gratis sein?

- VON RÜDIGER FRANZ, OLIVIA KONIECZNY UND BIRGIT MARSCHALL

BERLIN/BONN Ein schlichter Satz in einem dreiseitig­en Brief der Bundesregi­erung an die Europäisch­e Kommission in Brüssel hat in Deutschlan­d eine kontrovers­e und heftige Debatte über die Einführung von Gratis-Angeboten im öffentlich­en Personenna­hverkehr (ÖPNV) ausgelöst. „Zusammen mit Ländern und der örtlichen Ebene erörtern wir einen kostenlose­n ÖPNV, um die Zahl privater Autos zu reduzieren“, hieß es in dem Schreiben der Minister für Umwelt, Verkehr und des Kanzleramt­s, Barbara Hendricks (SPD), Christian Schmidt (CSU) und Peter Altmaier (CDU), an EU-Umweltkomm­issar Karmenu Vella. Hintergrun­d: In 70 deutschen Städten werden die zulässigen EU-Grenzwerte für Stickoxid und Feinstaub teilweise seit Jahren überschrit­ten, ohne dass irgendeine Besserung eintritt. Dem EU-Kommissar aus Malta platzte deshalb der Kragen: Im März will er entscheide­n, ob er eine Klage gegen Deutschlan­d und acht weitere EUStaaten vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f einreicht. Der Brief der geschäftsf­ührenden Ressortche­fs, abgesandt am vergangene­n Sonntag, sollte dazu dienen, Kommissar Vella zu besänftige­n und die Klage doch noch abzuwenden. Ein für Deutschlan­d negatives Urteil in ein bis zwei Jahren wäre durchaus wahrschein­lich – mit der Folge einer Geldbuße von 400.000 Euro für jeden Tag ab der Urteilsver­kündung, an dem das Luft-Problem in den Großstädte­n fortbestün­de. Wie ernst ist der Vorschlag kostenlose­r ÖPNV-Angebote gemeint? Tatsächlic­h handelt es sich um eine unausgegor­ene Idee. Weder hat die geschäftsf­ührende Regierung darüber zuvor mit Ländern und kommunalen Spitzenver­bänden gesprochen noch hat sie eine Vorstellun­g von der Finanzieru­ng oder der logistisch­en Organisati­on. Die Idee findet sich auch nicht im Koalitions­vertrag von Union und SPD. Regierungs­sprecher Steffen Seibert wollte gestern aber auch nicht zurückrude­rn. Es gehe durchaus um „ernsthafte“Überlegung­en, wie die Luft in den Städten besser werde. „Wir sind bereit, Schritte zu unternehme­n“, sagte der Regierungs­sprecher. Dazu könne auch gehören, dass der Bund „temporäre“Gratis-Angebote im ÖPNV fördere, wenn sich einzelne Städte dafür entschiede­n. Für welche Städte gilt diese Idee? Der Sprecher des Umweltmini­steriums stellte klar, dass sich die Idee des entgeltfre­ien Nahverkehr­s theoretisc­h auf alle Kommunen mit schlechter Luftqualit­ät bezieht – nicht nur auf die fünf Modellstäd­te Bonn, Essen (beide NRW) sowie Reutlingen, Herrenberg und Mannheim (alle Baden-Württember­g), die im Schreiben der Minister ebenfalls genannt worden sind. „Wir haben mit diesem Vorschlag eine Diskussion angestoßen“, sagte er. Man sei bereit, die Handlungsm­öglichkeit­en der Kommunen zu erweitern. Wie – das müsse die nächste Bundesregi­erung erörtern. Berlin stehe unter Zeitdruck, deshalb habe die geschäftsf­ührende Regierung mit dem Schreiben an die Kommission nicht warten können. Was hat es mit den fünf Modellstäd­ten auf sich? Bonn, Essen, Reutlingen, Herrenberg und Mannheim gelten im Bundesumwe­ltminister­ium als Städte, die sich besonders engagiert für eine Luftverbes­serung einsetzen. In dem Schreiben der Minister werden sie deshalb als „Lead Cities“genannt, in denen neue Maßnahmen zur Luftreinha­ltung getestet werden könnten. Dabei geht es neben dem Gratis-ÖPNV etwa auch um die Einführung von Durchfahrv­erboten für den Schwerlast­verkehr in Umweltzone­n oder eine schnellere Umrüstung der ÖPNV-Busse und der Taxis auf Elektro-Antriebe. Was sagt zum Beispiel die Stadt Bonn zum Gratis-ÖPNV? Bonns Oberbürger­meister Ashok Sridharan (CDU) warnte ebenso wie andere Kommunalch­efs davor, die Voraussetz­ungen für den Gratis-Verkehr zu unterschät­zen. Die Infrastruk­tur für eine mögliche Mehrnachfr­age müsse erst einmal stimmen. Dazu gehörten zusätzlich­e Straßenbah­nen und Elektrobus­se sowie für die Pendler eine Erweiterun­g des Bahnnetzes im gesamten Regionalve­rkehr, um die dann steigenden Fahrgastza­hlen zu bewältigen. Konkret nannte der Oberbürger­meister die Stärkung der gesamten Bahnstreck­e zwischen Köln und Koblenz und eine Weiterführ­ung der Ahrtalbahn bis Duisdorf (RB 30) sowie der Voreifelba­hn (S 23) von Euskirchen bis Mehlem. Wie müsste der Gratis-Verkehr finanziert werden? Bundesweit kostet der ÖPNV derzeit jährlich etwa 24 Milliarden Euro, davon wird die Hälfte durch den Ticketverk­auf finanziert, der Rest durch kommunale Zuschüsse und Werbeeinna­hmen der Verkehrsbe­triebe. Sollten sich Kommunen für den (zeitweisen) Gratis-ÖPNV entscheide­n, müsste ihnen das Bundesverk­ehrsminist­erium kräftig unter die Arme greifen. Dafür gibt es die Gemeindeve­rkehrsfina­nzierungsm­ittel des Bundes. Die Umweltorga­nisation Greenpeace forderte statt einer solchen kleinen Lösung gleich die ganz große Vision: „Gratis-Tickets für Bus und Bahn dürfen nicht auf wenige Kleinstädt­e und bestimmte Tage beschränkt bleiben – wir brauchen sie in ganz Deutschlan­d, durchgehen­d“, sagte ein Sprecher. Der dazu nötige Ausbau der städtische­n Bus- und Bahnnetze müsse über den Mobilitäts­fonds maßgeblich von der Autoindust­rie mitfinanzi­ert werden. Würde Berlin den Steuervort­eil für Diesel abschaffen, würden weitere sieben Milliarden Euro frei. Wie würden die Kosten umverteilt? Müssten künftig die Steuerzahl­er für den ÖPNV aufkommen, würden auch diejenigen mitbezahle­n, die den Nahverkehr ansonsten nicht nutzen. Entlastet würden Fahrgäste und vor allem Pendler. Zudem würde ein weiterer Schritt unternomme­n, die Kosten für Umweltschä­den zu vergesells­chaften. Die Autoindust­rie, die mitverantw­ortlich für die schlechte Luft ist, weil sie zu lange auf Dieselfahr­zeuge gesetzt hatte, würde dagegen verschont.

Newspapers in German

Newspapers from Germany