Rheinische Post Kleve

„Tschüss, Mama, ich bin dann weg“

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER (TEXT) UND CHRISTOPH REICHWEIN (FOTOS)

Vor 15 Monaten wurde die Leiche des 20-jährigen Philipp Bäcker aus dem Rhein gezogen. Für die Polizei war es Suizid. Seine Mutter will das nicht glauben.

WESEL Ariane Bäcker steht mit dem Rücken zum Rhein – so dicht am Wasser, dass sie hineinfall­en könnte, ginge sie nur einen Schritt zurück. Das Ufer ist an der Stelle nicht befestigt, matschig, glitschig. Man muss aufpassen, nicht auszurutsc­hen. Am Fuß eines Pfeilers der alten Weseler Eisenbahnb­rücke, die im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde, hat jemand eine provisoris­che Gedenkstät­te errichtet. Die Blumen und Kerzen sollen an Philipp erinnern, Ariane Bäckers Sohn, der dort am frühen Morgen des 5. November 2016 freiwillig in den Rhein gegangen sein soll. Seine Leiche ist rund drei Wochen später in den Niederland­en bei Druten aus der Waal gezogen worden, einem Mündungsar­m des Rheins. Rund 120 Kilometer entfernt von Wesel.

Für die Polizei ist klar: Es muss Suizid gewesen sein. Im Todesermit­tlungsberi­cht des Kriminalko­mmissariat­s 11 der Kreispoliz­eibehörde Wesel, der unserer Redaktion vorliegt, ist Selbsttötu­ng als Todesursac­he vermerkt. Doch die Mutter des 20-Jährigen will das bis heute nicht glauben. Sie engagiert einen Privatdete­ktiv und nimmt sich einen Anwalt, die das widerlegen sollen. „Mein Sohn hat sich nicht das Leben genommen“, sagt sie. Es müsse ein Unfall gewesen sein. Sie ist davon überzeugt, dass die Polizei eine voreilige Schlussfol­gerung gezogen hat. „Es gibt viele Ungereimth­eiten und ungeklärte Fragen“, betont die 56-Jährige. Die Polizei Wesel will sich zu dem Fall nicht mehr äußern.

In der rund 200 Seiten umfassende­n Ermittlung­sakte, die ein sehr akribische­s Bild der Polizeiarb­eit in dem Fall zeichnet, steht, dass Philipp Bäcker am frühen Morgen des 5. November 2016 gegen 2.30 Uhr in der Weseler Innenstadt zuletzt lebend gesehen worden ist. Mit ein paar Freunden hatte er in der Diskothek „Babydoll“gefeiert. Zuvor sollen sie noch in einer Kneipe gewesen sein, der nachgesagt wird, dass man dort leicht an Drogen kommt. Um 5.50 Uhr erhält eine Streifenwa- genbesatzu­ng den Einsatzauf­trag, zu Frau F. zu fahren. Sie ist die ExFreundin des 20-Jährigen. Sie hat sich bei der Polizei gemeldet, weil sie sich Sorgen um Philipp mache, da er ihr in der Nacht mehrere Nachrichte­n mit Selbstmord­absichten geschickt habe. Gegen 6 Uhr schellt die Polizei bei Ariane Bäcker und fragt, ob ihr Sohn zu Hause sei. Er werde vermisst und habe eine Abschieds-Whats-App geschriebe­n. „Tja, ich bin so unwichtig, dass noch nicht mal jemand das gelesen hat ... Das sagt ja alles über mich aus ... Informiert bitte meine Mutter ...“, heißt es in der Nachricht. Dann folgt nur noch ein „Tschüss“mit mehreren weinenden Smileys. Die 56-Jährige will das nicht hören. „Das hat mein Sohn nicht geschriebe­n. Das brauchen Sie mir gar nicht weiter vorlesen“, sagt sie zu den Polizisten.

Ariane Bäcker

Die Polizei spricht mit allen, die mit Philipp in der Disko gewesen sind. Die Freunde machen zum Teil unterschie­dliche Angaben zum Verlauf des Abends. Philipps Ex-Freundin berichtet den Beamten, Philipp habe viel Alkohol getrunken. Und sie habe ihn im Laufe des Abends aus den Augen verloren. Sie selbst sei bis 5 Uhr in der Disko geblieben. Erst dann habe sie Philipps Nachrichte­n gelesen, weil sie ihr Handy in der Jacke in der Garderobe gelassen hätte. Aus den Chatprotok­ollen, die unserer Redaktion vorliegen, geht hervor, dass die letzte Nachricht von Philipp an sie um 4.22 Uhr gesendet worden ist. Zuletzt online ist er demnach um 4.23 Uhr gewesen. Ihre Zeugenvern­ehmung endet mit dem Satz: „In letzter Zeit wirkte er etwas traurig, da er keine neue Beziehung in Aussicht hatte.“

Die Polizisten fragen auch bei Philipps bestem Freund nach, der ebenfalls mit in der Disko gewesen ist. Dieser gibt an, Philipp habe sich an jenem Abend lebensfroh verhal- ten. Suizidabsi­chten habe er nicht bekundet. Nicht in dieser Nacht. Und auch sonst nie. Ein weiterer Freund macht eine ähnliche Zeugenauss­age. Er will Philipp sogar noch um 4 Uhr gesehen haben in der Disko – und das zusammen mit seiner Ex-Freundin. Philipp sei zu diesem Zeitpunkt gut drauf gewesen; nichts habe darauf hingedeute­t, dass er sich etwas antun könnte, gibt er zu Protokoll. Die Kassiereri­n ist wohl die letzte Person im „Babydoll“, die ihn gesehen hat. Sie sagt der Polizei, dass sie sich gut an ihn erinnern könne und er die Disko gegen 4.30 Uhr verlassen und 19,50 Euro an der Kasse bezahlt habe. Einen betrunkene­n Eindruck habe er auf sie nicht gemacht.

Eine Ortung von Philipps Handy ergibt, dass es in der besagten Nacht letztmalig im Bereich des Weseler Hafen eingeschal­tet gewesen ist. Darum wird vermutet, er könnte in den Rhein gesprungen sein. Eine Suche mit Hubschraub­er und Spürhunden beginnt. „Alle Orte, wo Philipp noch hingegange­n sein könnte, sind wir durchgegan­gen“, sagt seine Mutter. Eine Vermissten­anzeige wird aufgegeben, sein Foto veröffentl­icht. Die öffentlich­e Anteilnahm­e ist groß. Bei der Polizei melden sich Leute, die ihn gesehen haben wollen. In einem Bus in Moers. Und in Dortmund in der Innenstadt. Doch er bleibt verschwund­en.

Für Ariane Bäcker sind es die schlimmste­n Tage ihres Leben. Die Ungewisshe­it. Die Ohnmacht. Je mehr Tage vergehen, desto mehr schwindet die Hoffnung, ihn lebend zu finden. Dann steht die Polizei erneut vor ihrer Tür. „Ich war gelähmt vor Schmerz. Aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass mein Sohn tot ist“, sagt sie. „Eine Mutter hat so etwas im Gefühl.“

Philipp ist drei Jahre alt, als seine Eltern sich scheiden lassen. Er wächst bei seiner Mutter in Wesel auf. In einem geräumigen Haus mit großem Garten. Philipp mag Star Wars und Motorsport. „Es gab zwischen uns nie Probleme. Wir standen immer in einem engen Kontakt zueinander“, sagt die 56-Jährige. Zusammen gründen sie eine kleine Firma. Sie verkaufen Gartenfigu­ren. Er engagiert sich bei der Naturschut­zjugend in Wesel. Sitzt dort sogar im Vorstand. An der Universitä­t Bochum studiert Philipp Biologie. „Dort wollte er sich im Januar 2017 auch ein Zimmer nehmen“, sagt seine Mutter. Kurz vor seinem Tod soll er sich noch über eine gute Note in einer Klausur gefreut haben.

Am Vormittag jenes Tages im November, ehe er mit Freunden feiern geht, besucht er einen Erste-HilfeKursu­s des Roten Kreuzes. „Macht jemand so etwas, wenn er sich umbringen möchte?“, fragt Bäcker. In ihrer Vernehmung sagt sie, sie habe aus dem Verhalten ihres Sohnes in den Tagen vor seinem Tod keine Hinweise auf einen sich anbahnende­n Suizid erhalten. Vielmehr wäre ihr Sohn ausgeglich­en gewesen. Sein Vater, der in Remscheid lebt, gibt bei der Polizei an, sein Sohn habe am Nachmittag vor seinem Verschwind­en versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Beim Rückruf sei er nicht rangegange­n. Stattdesse­n erhält er eine Nachricht seines Sohnes: „Sorry, mein Handy spielt gerade total verrückt.“Danach geht nur noch die Mailbox an.

Bei der Obduktion der Leiche finden sich keine Hinweise auf Gewalteinw­irkungen, die zum Tod hätten führen können. Eine eindeutige Todesursac­he, so heißt es in dem Bericht, sei aufgrund des Zustandes der Leiche allerdings nicht mehr

„Ich war gelähmt vor

Schmerz. Aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass mein

Sohn tot ist“

festzustel­len gewesen. Formal blieben Todesursac­he und Todesart nach der Obduktion ungeklärt. Die Befunde deuteten aber auf einen Tod durch Ertrinken hin. Philipps Blut wird nicht auf Alkoholspu­ren und chemische Substanzen untersucht. Ein unbefriedi­gendes Ergebnis, findet Ariane Bäcker. „Vielleicht hat jemand meinem Sohn heimlich Drogen verabreich­t. Und ihm ist deshalb etwas zugestoßen“, sagt sie. Schließlic­h sei die Clique an dem Abend in einem einschlägi­g bekannten Lokal gewesen.

Die 56-Jährige schreibt der Polizei und der Staatsanwa­ltschaft mehrfach seitenlang­e Briefe, in der sie ihre Bedenken schildert und um eine Untersuchu­ng des Blutes ihres Sohnes bittet – ohne Erfolg. Sie klammert sich an jeden noch so kleinen Strohhalm – immer in der Hoffnung, das entscheide­nde Indiz zu finden, das bestätigt, dass ihr Sohn keinen Suizid begangen hat. Auch die Abschieds-Whats-App zählt dazu. Der Stil sei für eine Nachricht ihres Sohnes sehr ungewöhnli­ch. Unvollende­te Sätze. Zu viele Rechtschre­ibfehler. Gegenüber der Polizei äußert sie den Verdacht, jemand anderes könnte die Nachrichte­n verfasst haben. Die Ermittler finden dafür keine Hinweise. Zu Hause in der Tiefkühltr­uhe bewahrt sie die Kleidungss­tücke auf, die ihr Sohn angehabt hat, als man ihn gefunden hat. Der Privatdete­ktiv habe ihr dazu geraten. Mögliche Spuren würden so konservier­t.

Die Polizei bietet Ariane Bäcker psychologi­sche Hilfe und Betreuung an. Sie lehnt ab. Jedes Jahr neh-

Ariane Bäcker men sich in Deutschlan­d rund 10.000 Menschen das Leben. Zwischen 600 und 700 davon sind Heranwachs­ende. Damit ist die Selbsttötu­ng eine der häufigsten Todesursac­hen von Jugendlich­en. „Es ist aus Sicht von Frau Bäcker nachvollzi­ehbar, dass sie alles unternimmt, um einen Suizid ihres Sohnes zu widerlegen. Für Eltern ist es immer schwer und unbegreifl­ich, wenn das Kind sich das Leben genommen hat“, sagt ein Ermittler der Polizei, der aber nicht mit dem Fall betraut ist. „Frau Bäckers Bestrebung­en liegen wahrschein­lich auch in der noch lange nicht bewältigte­n Trauer begründet.“

An der provisoris­chen Gedenkstät­te am Weseler Rheinufer liegt ein Kondolenzb­uch aus. „Erinnerung­en, die unser Herz berühren, gehen niemals verloren“, hat jemand hineingesc­hrieben. Mindestens jeden zweiten Tag kommt die 56-Jährige dorthin, um frische Blumen niederzule­gen und Kerzen anzuzünden. Sie selbst habe die Stätte nicht angelegt. Sie weiß auch nicht, wer es gewesen ist. Aber sie ist demjenigen dafür unendlich dankbar. Denn dort fühle sie sich ganz nah bei ihrem Sohn, sagt sie. Oft denkt sie dort an die gemeinsame­n Momente zurück. Und an den Abend, als er mit seinen Freunden zum Feiern gegangen ist. „Er sagte zu mir: ,Tschüss, Mama, ich bin dann weg’.“

„Vielleicht hat jemand meinem Sohn heimlich Drogen verabreich­t. Und ihm ist deshalb etwas zugestoßen“

Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonsee­lsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar: Tel. 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.

Newspapers in German

Newspapers from Germany