Rheinische Post Kleve

Geschichts­schreiber der Gegenwart

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: ANNE ORTHEN

Navid Kermani hat einen großartige­n Band mit Reportagen aus dem östlichen Europa vorgelegt. Ein Hausbesuch in Köln.

KÖLN Da will man bei Navid Kermani klingeln, sieht den Aufkleber mit dem Zitat von Lars von Trier über dem Namensschi­ld und denkt: Uff. „Erwarten Sie das Gute und das Böse“, steht da. Und als man noch überlegt, was das denn nun wieder zu bedeuten hat und ob man jetzt wirklich drücken soll, taucht er in echt hinter einem auf und sagt sehr leise und sehr freundlich: „Hallo.“

Navid Kermani: Denker, Essayist, Reporter und habilitier­ter Orientalis­t. Friedenspr­eisträger des Deutschen Buchhandel­s, Muslim, Deutsch-Iraner. 50 Jahre alt. Viele Menschen sehen in ihm jemanden, der ihnen Rat geben könnte. Einen, dem sie sich anvertraue­n möchten. Kermani, der Ombudsmann einer unübersich­tlichen Gegenwart. Nur so zum Spaß sollte man mal nach den Themen googeln, zu denen er in den vergangene­n Wochen befragt wurde: Krieg und Frieden, Norbert Lammert, Marcel Proust, Can-Schlagzeug­er Jaki Liebzeit, Kurdistan, Saufexzess­e im Karneval, Liebe im Allgemeine­n.

Im dritten Stock dieses unscheinba­ren Hauses, das in Köln inmitten von Handyläden, Shisha-Bars und türkischen Gemüsegesc­häften steht, hat er seine Arbeitswoh­nung. Ideen-Hauptquart­ier. Denk-Raum. Kein Elfenbeint­urm allerdings. Im Gegenteil. Man sitzt zwar vor Werkausgab­en von Adorno und Goethe. Aber man hört die appetitlic­hen Geräusche des Kaffee-Aufgießens aus der Küche, entdeckt das lustige Mousepad, das wie ein Teppich aussieht, und blickt auf die divanartig ausgelegte Matratze mit dem rührend glatt gestrichen­en Oberbett. Hier ist Leben drin. Das ist der Tower, von dem aus die Flugbewegu­ngen der Gegenwart beobachtet werden.

Navid Kermani stellt dem Gast einen Kaffee hin und setzt sich. Er legt die Hände auf die Oberschenk­el und schaut mit diesem KermaniBli­ck. Er hat ein neues Buch geschriebe­n. In „Entlang den Gräben“schildert er eine Reise von Köln über das Baltikum und dann südlich bis über den Kaukasus und in den Iran. Eine Reise in den Osten, am Riss entlang, der sich durch Europa zieht. Das ist ein wichtiges Buch. Wer Kermanis vorangegan­gene Reportageb­ände kennt, der weiß, dass er darin frühzeitig, hellsichti­g geradezu, drohende Konfliktfe­lder benannte. Hier sind es nun Geschichts­vergessenh­eit, Rechtsruck und Nationalis­mus, die er als Bedrohunge­n des Projekts Europa herausarbe­itet.

Kermani hat ein Unbehagen gespürt. „Viele Menschen denken sich: Wir wollen, dass alles so bleibt“, sagt er. „Sie haben Angst vor der Veränderun­g. Und derzeit verändert sich sehr viel sehr schnell.“Er lässt diese Menschen zu Wort kommen, er besucht sie und spricht mit ihnen. Er erlöst den Einzelfall aus der objektivie­rten Geschichte der Zahlen und Daten. Er kann das: nah rangehen, empfindsam sein. Er ist ein guter Reporter, weil er die eigene Subjektivi­tät reflektier­t und nie belehrend ist. Er ist ein informiert­er Empathiker. Es geht ihm nicht um Staaten und Nationen, sondern um Menschen. „Die Unmöglichk­eit einander zu verstehen, das ist das Hauptprobl­em“, sagt er. Er möchte dieses Problem lösen. Er möchte die Welt hörbar machen. Das Gute und das Böse.

Kermani schildert in dem Buch auch seinen Besuch in Auschwitz. Dort muss er sich auf dem Rundgang für eine Sprache entscheide­n: „Deutsch“. In dem Moment habe er sich den Tätern zugehörig gefühlt und nicht den Opfern, schreibt er. Nicht durch Herkunft, sondern durch die Sprache und Kultur gehöre er dazu. Das sei denn auch das spezifisch Deutsche an der hiesigen Leitkultur: „das Bewusstsei­n seiner Schuld, das Deutschlan­d nach und nach gelernt und eingeübt hat“. Muss der Besuch in Auschwitz Pflicht werden für deutsche Schüler? „Man sollte ihn einbauen in Lehrpläne. Die sinnlichen Erfahrunge­n brechen weg. Aber die Rituale und Gedenktage werden nur dann als nicht leer empfunden, wenn sie angereiche­rt sind durch sinnliche Erfahrung. Man braucht die konkrete physische Begegnung. Es macht einen Unterschie­d, ob Sie in Auschwitz waren oder nicht.“

Man wundert sich, wie nah uns die Orte sind, die Kermani bereist –

„Man sollte den Auschwitz-Besuch in die deutschen Lehrpläne

einbauen“

und wie fern zugleich. Odessa, Tiflis, Tschernoby­l. „In den 1920er Jahren war Deutschlan­d eigentlich kein westeuropä­isches Land“, sagt Kermani. „Lesen Sie nur Thomas Mann, der die Differenz Deutschlan­ds zum Westen betonte. Die Hinwendung zum Westen nach dem Krieg war etwas Künstliche­s, aber auch Gewolltes. Sie wurde von den Westmächte­n und der Regierung Adenauer bewusst befördert, um Deutschlan­d wegzubekom­men von der eigenen Geschichte. So kam es zum großen Einfluss der westlichen Kultur.“Das sei gut gewesen, einerseits. „Anderersei­ts hat es dafür gesorgt, dass die Schrecken des Zweiten Weltkriege­s und des Holocaust, die sich vor allem im östlichen Europa abgespielt haben, zwar als Wissen bewahrt, aber sozusagen aus unserem topographi­schen Bewusstsei­n getilgt wurden.“

Kermani reist über Schlachtfe­lder und Gräber, und besonders eindrucksv­oll ist die Szene im Kiefernwal­d in Paneriai nahe Vilnius. Eine gespenstis­che Idylle. So still. Im Boden ruhen die Toten des Krieges. Aber nichts, kein Schild oder Denkmal, gemahnt daran. Das sind die „Bloodlands“, wie der Historiker Timothy Snyder sie genannt hat: die Killing Fields zwischen Deutschlan­d und Russland. 14 Millionen Menschen wurden in den Territorie­n ermordet, die zwischen 1933 und 1945 unter deutscher oder sowjetisch­er Herrschaft gestanden haben.

Kermani schreibt die Geschichte dieser Region auf und erkundet ihre Gegenwart. Er ist ein zeitgenöss­ischer Herodot, er nennt Quellen, beruft sich auf das eigene Erleben und verleiht seiner Erzählung dadurch Kraft. Sie strotzt vor Unmittelba­rkeit. Er trifft die Lehrerin Xenija aus Minsk ebenso wie die Literatur-Nobelpreis­trägerin Swetlana Alexijewit­sch. Er übersetzt Meinungen und Standpunkt­e, und er mahnt den Leser, den eigenen Blick zu revidieren. Es darf kein Drinnen oder Draußen geben, kein Wir oder Ihr.

Wie können wir die Errungensc­haft Europa schützen? Er sei kein Politiker, wehrt Kermani ab. Dann überlegt er einen Moment – einundzwan­zig, zweiundzwa­nzig – und sagt: „Es ist schön, dass es dort anders ist als hier. Es ist nicht erstrebens­wert, dass wir alle gleich werden.“Wieder Pause. „Wenn Europa gelingen würde, würden die Katalanen den Grund verlieren, warum sie eine Unabhängig­keit brauchen.“

Vielleicht sind seine Reportagen das Hauptwerk dieses öffentlich­en Intellektu­ellen. Sie ergeben eine Kulturgesc­hichte des Unmittelba­ren. Man darf sie indes nicht als Ratgeber verstehen. Sondern als Übertragun­g der Gegenwart in Bilder. Keine Anweisung, bloß Anregung. Insofern ist Kermani ein Aufklärer. Er will alles zusammende­nken. Mit allen zusammen denken.

Als man die Casa Kermani verlässt und auf die Straße tritt, kommt man noch einmal an diesem Zitat vorbei: „Erwarten Sie das Gute und das Böse.“Es hat nun einen anderen Klang.

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Navid Kermani (50) in seiner Arbeitswoh­nung in Köln.

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