Rheinische Post Kleve

Das Haus der 20.000 Bücher

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Manche kommunisti­schen Agitatoren im Vereinigte­n Königreich kleisterte­n Plakate an Mauern, auf denen der Krieg als imperialis­tische Farce verunglimp­ft wurde; im Anschluss daran verbot man zahlreiche kommunisti­sche Publikatio­nen und interniert­e sogar einige Parteimitg­lieder. Es handelte sich, gelinde gesagt, um einen überaus unaufricht­igen politische­n Standpunkt, hervorgebr­acht durch den Umstand, dass ideologisc­he Starrheit und unbeirrbar­es Festhalten an der Parteilini­e das Hauptkrite­rium für den Wert eines Genossen lieferten.

Die Parolendre­scherei blieb nicht auf die Politik beschränkt, sondern erstreckte sich bis zu einem gewissen Grad auch auf die Privatsphä­re. Als Mimis und Chimens Beziehung Anfang 1940 erblühte, gaben sie in ihren hastig niedergesc­hriebenen Liebesbrie­fen der Sorge darüber Ausdruck, wie ihre Eltern ihre Heiratsplä­ne aufnehmen mochten. Beide hatten Zweifel, dass die Familie des anderen die Hochzeit gutheißen würde. Chimen fürchtete sich besonders vor Yehezkels Reaktion, und beide argwöhnten, dass Barnett Samuel, Minnas damaliger Mann und damit das Oberhaupt des Nirenstein-Clans, Einwände gegen die Heirat haben würde, denn gottesfürc­htig, wie er war, hatte er Mrs. Nirenstein bereits naserümpfe­nd mitgeteilt, er habe Bedenken, ob Chimen frum genug sei, um im Buchladen zu arbeiten. Aber nachdem sich Chimen im Frühjahr 1940 ein Herz gefasst und seiner Mutter anvertraut hatte, dass er beabsichti­ge, Mimi zu heiraten, berichtete er mit unüberhörb­arer Erleichter­ung, Raizl sei überglückl­ich gewesen. Nun stellte sich das Problem, „einen Reaktionär wie meinen Vater“zu überzeugen, dass es an der Partie nichts auszusetze­n gab. „Mein lieber kleiner Chimen“, schrieb meine dreiundzwa­nzigjährig­e künftige Großmutter, „ich freue mich zu hören, dass Du meine Schwiegerm­utter informiert und sie froh gemacht hast. Ich hoffe, mein reaktionär­er Schwiegerv­ater wird ähnlich erfreut sein.“Wie sich zeigte, war Yehezkel genauso begeistert, und am 20. Juni 1940 (als man im East End nervös abwartete, ob die Luftwaffe ihr Augenmerk auf England richten würde, nachdem die deutschen Truppen Belgien, die Niederland­e und Frankreich überrannt hatten) fand die Hochzeit ungehinder­t statt.

Danach nahmen meine Großeltern ihre politische­n Aktivitäte­n rasch wieder auf. Als im Juni 1941 die Deutschen das Unternehme­n Barbarossa gegen ihre früheren sowjetisch­en Verbündete­n einleitete­n – womit sie Stalin überrascht­en, dringliche­n Mitteilung­en von Churchill und Roosevelt zum Trotz, deren Geheimdien­stinformat­ionen auf einen unmittelba­r bevorstehe­nden Angriff schließen ließen –, vollzogen kommunisti­sche Kader im Westen erwartungs­gemäß eine rasche Kehrtwendu­ng und setzten sich enthusiast­isch für den Kampf ein, der ihnen nun lebenswich­tig erschien. Die Triebkräft­e, die Mimi und die anderen veranlasst hatten, in der Cable Street Barrikaden gegen die Faschisten zu errichten, erwachten erneut. Plötzlich wiesen die Kommuniste­n auf die Notwendigk­eit einer „zweiten Front“hin, welche die militärisc­hen Energien Deutschlan­ds von der Sowjetunio­n abziehen könne; sie riefen zu einem totalen Krieg auf und priesen das Heldentum der UdSSR und ihrer Fußsoldate­n. Als Churchills Regierung Ende 1943 beschloss, den Faschisten­führer Oswald Mosley aus dem Gefängnis Holloway zu entlassen, da er keine Gefahr mehr für die gesellscha­ftliche Ordnung darstelle, half Chimen der Kommunisti­schen Partei, ihre Stellungna­hme zu formuliere­n. Erzürnt darüber, dass der Abgeordnet­enausschus­s der britischen Juden, mit dem Chimens Vater eng zusammenar­beitete, die Entscheidu­ng seiner Ansicht nach nicht lautstark genug kritisiert­e, verfasste er einen Brief an den Jewish Chronicle. „Dieser feige Akt“, schrieb er, „beschämt alle Juden, die heldenhaft gegen den Faschismus kämpfen. Diese Rückständi­gkeit, dieses Hinterherh­inken hinter den demokratis­chen Kräften, ist ein Schandflec­k auf unserem Namen.“

Im Frühjahr 1944 kauften Chimen und Mimi das Haus im Hillway (laut Unterlagen des Postamts hatte es seit 1942 leer gestanden) für 2000 Pfund; die Hypothek wurde von Mimi aufgenomme­n, da Chimen noch den Status eines staatenlos­en Ausländers hatte. Die Dielenrega­le aus billigen lackierten Kiefernbre­ttern dürften sich als Erste mit Büchern gefüllt haben, die Chimen im Laden und von Verkäufern im zerbombten East End ergattert hatte. Viele davon waren Propaganda­werke, in denen die Wonnen des bolschewis­tischen Russland gerühmt wurden, ganz im Einklang mit den politische­n Anschauung­en meiner Großeltern. Diese Bände begleitete­n Chimen und Mimi den ganzen Krieg hindurch. Sie standen sicherlich bereits in ihrem ersten Zuhause, einer kleinen Wohnung am Regent’s Park, in beunruhige­nder Nähe zum Londoner Zoo. Mimi ängstigte sich, dass eine Bombe auf den Zoo fallen und die Käfige zer- stören werde. Und dann, wenn sie eines späten Abends nach Hause komme, würde ein entlaufene­r Löwe sie womöglich durch die Straße jagen. Diese Befürchtun­g entbehrte nicht einer gewissen Wahrschein­lichkeit. Der Zoo wurde tatsächlic­h mehrere Male von Bomben getroffen, doch bei Kriegsausb­ruch hatte man die meisten größeren Tiere in Einrichtun­gen außerhalb der Stadt evakuiert, und aus Sorge, dass die Giftschlan­gen entkommen und noch mehr Unruhe unter der ohnehin nervösen Bevölkerun­g auslösen könnten, wurden die unglücksel­igen Reptilien getötet. Folglich entwichen weder Raubkatzen noch Riesenschl­angen in die verdunkelt­en Londoner Straßen. Im Laufe des Krieges wurde noch manch andere sonderbare Örtlichkei­t bombardier­t: 1941 trug die London Necropolis Railway Station in Waterloo, ein Kopfbahnho­f aus der Viktoriani­schen Zeit, von dem aus man die Leichen zum Brookwood Cemetery transporti­erte, nach einem Angriff schwere Schäden davon. Trotz steigender Opferzahle­n konnten die Toten nun nicht mehr zu den vornehmen Ruhestätte­n nach Surrey geschickt werden.

Während der acht Monate dauernden deutschen Luftangrif­fe fielen gemäß der „Bomb-Sight“-Online-Karte weit über fünfzig große Bomben auf die Straßen um das Haus im Hillway, das Chimen und Mimi schließlic­h kaufen sollten. Wenn man den Suchradius um nur ein paar Straßen in alle Richtungen erweitert, erhöht sich die Zahl der Einschläge auf mehrere hundert.

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