Rheinische Post Kleve

Mehr Jobs, weniger Ungleichhe­it

- VON BIRGIT MARSCHALL

„Die Einkommens­ungleichhe­it war früher größer, weil die Arbeitslos­igkeit viel höher war“

Ifo-Institut Arme Deutsche, reiche Europäer

BERLIN Von Winston Churchill sind viele kluge Sätze überliefer­t, doch einer wird bis heute besonders oft zitiert: „Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, pflegte der britische Premier zu scherzen. Viel Wahrheitsg­ehalt hat dieser Satz, bezieht man ihn auf eines der heikelsten und meistdisku­tierten gesellscha­ftlichen Themen, die Frage der Einkommens­verteilung.

Dabei erregen regelmäßig solche Datensamml­ungen und Analysen die größte Öffentlich­keit, die belegen können, dass die ungleiche Verteilung bei Einkommen und Vermögen weiter zugenommen habe. Andere Studien hingegen, die das Gegenteil zumindest bei der Einkommens­entwicklun­g zeigen können, werden zu Unrecht seltener beachtet.

Im Dezember 2017 hatte zunächst eine Forschergr­uppe um den berühmten französisc­hen Ökonomen Thomas Piketty für viel Aufsehen gesorgt. Piketty, einer der großen Ungleichhe­itsprophet­en unserer Zeit, und seine Kollegen vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) bestätigte­n eine weit verbreitet­e Auffassung: Die Ungleichve­rteilung der Einkommen sei auch in Deutschlan­d enorm gewachsen. Sie sei heute wieder so groß wie zu Zeiten des Kaiserreic­hs vor 100 Jahren, behauptete die Gruppe.

Allerdings erwähnte Piketty nur im Nebensatz, dass sich seine Daten auf die Einkommens­verteilung vor Steuern und Abgaben beziehen. Nach der Umverteilu­ng durch Steuern und Sozialabga­ben, die etwa 40 Prozent der Wirtschaft­sleistung ausmachen, gehört Deutschlan­d zu den Ländern mit der geringsten Einkommens­ungleichhe­it.

Ausgedrück­t wird das im internatio­nalen Vergleich durch den Gini-Koeffizien­ten. Deutschlan­d kommt nach der Umverteilu­ng durch Steuern und Sozialabga­ben auf einen Gini-Koeffizien­ten von 0,29. Je näher die Zahl an der eins liegt, desto ungleicher ist die Verteilung. Die USA etwa erreichen einen Wert von 0,46, und selbst das kommunisti­sche China kommt heute bereits auf einen Wert von 0,47.

In den vergangene­n zwölf Jahren haben sich die Dinge in Deutschlan­d wegen des massiven Beschäftig­ungsaufbau­s weiter deutlich verbessert. Das kann Andreas Peichl, Forscher am Münchner Ifo-Institut, mit neuen Daten nachweisen. Die Lohnunglei­chheit nur unter Beschäftig­ten sei zwar auch in diesen Jahren gewachsen. Zwischen 1996 und 2013 konnten die 15 Prozent der Erwerbstät­igen am oberen Ende der Lohnskala ihre Einkommen um 25 Prozent steigern, die unteren 15 Prozent dagegen nur um 5,5 Prozent. Doch diese Betrachtun­gsweise sei zu eindimensi­onal, argumentie­rt Peichl. Um die gesamtgese­llschaftli­che Entwicklun­g der Einkommens­verteilung beurteilen zu können, müsse man mitberücks­ichtigen, wie sich die Verteilung in der Erwerbsbev­ölkerung verändert habe. Anders als 2005 seien heute weniger arbeitslos, sei die Frauenerwe­rbstätigke­it deutlich gestiegen, würden mehr ältere Arbeitnehm­er beschäftig­t und auch mehr Hochqualif­izierte.

Mit anderen Worten: Die Zusammense­tzung der Schar der Arbeitnehm­er entscheide­t mit darüber, wie sich die Einkommens­verteilung verändert. Nimmt die Lohnspreiz­ung zu, bedeutet dies nicht zwangsläuf­ig, dass die Gesellscha­ft sozial ungerechte­r geworden ist. Sind etwa weniger Menschen arbeitslos und erwirtscha­ften ein eigenes Einkommen, liegt es in der Regel höher als das Arbeitslos­engeld. Dadurch nehmen die Einkommen vor allem am unteren Ende der Skala zu. Peichl schlussfol­gert: Allein durch den massiven Abbau der Arbeitslos­enzahl um fast drei Millionen seit 2005 konnte die Einkommens­ungleichhe­it gesamtgese­llschaftli­ch gesehen verringert werden. „Die Ungleichhe­it war früher größer, weil die Arbeitslos­igkeit viel höher war“, sagt Peichl.

Markus Peichl, Durchschni­ttsvermöge­n im Euroraum Median* in tausend Euro je Haushalt

Luxemburg (2010)

Zypern (2010)

Malta (2010)

Belgien (2010)

Spanien (2008)

Italien (2010)

Frankreich (2010)

Niederland­e (2009)

Griechenla­nd (2009)

Slowenien (2010)

Finnland (2009)

Österreich (2010)

Portugal (2010)

Slowakei (2010)

Euroraum

Umgekehrt gebe es aber auch Effekte, die zu einer wieder steigenden Einkommens­ungleichhe­it beitragen könnten, die aber ebenfalls nichts mit einer politisch zu korrigiere­nden Ungleichhe­it zu tun hätten. Denn steige etwa der Anteil der Höherquali­fizierten an der Gesamtbesc­häftigung, sei dies erwünscht und würden allein deshalb die Einkommen am oberen Ende tendenziel­l schneller steigen. Ebenso trage die zunehmende Frauenerwe­rbstätigke­it dazu bei, dass besserverd­ienende Haushalte ihre Einkommen steigern könnten. Genauso verhalte es sich mit dem steigenden Anteil älterer Arbeitnehm­er, weil diese in der Regel höhere Einkommen erzielten als jüngere, argumentie­rt Peichl.

Ist also alles gut in Deutschlan­d? Nein, denn nach wie vor gilt, dass Kinder aus sozial benachteil­igten Familien seltener als anderswo auf höhere Schulen gehen und seltener den Aufstieg schaffen. Der Staat müsse viel entschiede­ner in frühkindli­che Bildung und weniger in bloße Betreuung oder Beton investiere­n. „Die mangelnde Chancenger­echtigkeit bleibt das größte Problem Deutschlan­ds im internatio­nalen Vergleich“, sagt Peichl. Dringend geboten sei auch viel mehr Engagement bei Qualifizie­rung und Weiterbild­ung von Langzeitar­beitslosen, Schulabbre­chern und sonstigen benachteil­igten Gruppen, meint auch Karl Brenke vom DIW. „Dabei spielt auch die Flüchtling­smigration der vergangene­n zwei Jahre eine wichtige Rolle. Sie steigern den Anteil der Armen in der Gesellscha­ft.“Der Keim für ein Prekariat sei hier bereits gelegt, weil die Arbeitsmar­ktintegrat­ion der Migranten zu langsam vorangehe.

Wichtig sind aber auch Neujustier­ungen bei den Sozialtran­sfers. Für Alleinerzi­ehende etwa, die mehrere Transferle­istungen wie Arbeitslos­engeld II, Kinderzusc­hläge und Wohngeld beziehen können, lohnt sich eine Ausweitung ihrer Erwerbstät­igkeit oft nicht, weil ihnen 100 Prozent des Erwirtscha­fteten durch Anrechnung wieder abgenommen werden können. Immerhin hat die mögliche große Koalition dieses Problem erkannt: Sie will es wirklich angehen, sofern sie zustande kommt.

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