Ein Land im Krisenmodus
Das Überleben des kleinen Libanon hängt von einer fragilen politischen Balance ab, die derzeit einmal wieder akut bedroht ist.
BEIRUT „Was, schon so lange waren Sie nicht mehr hier“, stellt der Passkontrolleur bei der Einreise am Flughafen in Beirut fest. „Acht Jahre ist eine lange Zeit, aber ich kann Sie beruhigen, es hat sich nichts verändert.“Was der junge Beamte damit meint, erfährt man schnell. „Es geht so weiter, als ob nichts passiert ist“, umreißt der Taxifahrer die derzeitige politische Lage. Ende November kehrte der libanesische Premierminister Saad Hariri nach acht Wochen „Geiselhaft“, wie seine Abwesenheit hier meist bezeichnet wird, aus Saudi-Arabien zurück nach Beirut: Dann vertagte er zunächst seinen von Saudi-Arabien aus verkündeten Rücktritt, um Zeit für Konsultationen zu gewinnen. Schließlich verkündete er, dass er nun doch im Amt bleibe.
Ein bizarrer Vorgang, hatte der angekündigte Rücktritt doch zuvor Schockwellen im Mittleren Osten ausgelöst, da der 47-jährige Hariri als Grund für seinen Amtsverzicht eine Bedrohung für Leib und Leben vonseiten des Iran und der im Libanon mitregierenden schiitischen Hisbollah angab. Schon war von einem drohenden Stellvertreterkrieg zwischen den rivalisierenden Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran auf libanesischem Boden die Rede. Die Angst ging um, dass eine Bürgerkriegssituation wie in Syrien oder dem Irak nun auch im Zedernstaat entstehen könnte.
„Die Saudis sind schuld“, ist sich der Taxifahrer sicher, „die haben unseren Premier gekidnappt“. Überhaupt sei Riad derzeit der Drahtzieher allen Übels in der Region. „Obwohl ich Sunnit bin, kann ich die Saudis nicht leiden.“Sie mischten sich in die Angelegenheiten anderer Staaten, um ihre eigenen Interessen zu befördern. Der beste Beweis sei die neuerliche Krise im Libanon.
Vor acht Jahren begann Saad Hariris erste Amtszeit als Premierminister, vier Jahre nachdem sein Vater im Februar 2005 durch einen Bombenanschlag getötet worden war. Nach nur zwei Jahren zerbrach die Regierung wieder. Ein UN-Sondertribunal war zu dem Schluss gekommen, dass hochrangige Mitglieder der Schiitenmiliz Hisbollah sowie Politiker der Schutzmacht Syrien an dem Attentat auf Hariris Vater beteiligt waren. Aus Protest verließen die Minister der Hisbollah die Regierung. Hariri ging daraufhin zunächst ins Ausland; sein Land blieb politisch gelähmt.
„Doch Krise bedeutet für uns nicht das Ende der Welt“, kommentiert ein Student der amerikani- schen Universität Beirut die Stimmung im kleinen Land am Mittelmeer. „Wir sind krisenresistent.“Im alten Kaffeehaus „Younes“im Bezirk Hamra, schräg gegenüber der Hochschule, versammeln sich Studenten aller Fakultäten, schwatzen, trinken Kaffee und nutzen die gute Internetverbindung, um ihre Recherchen zu diskutieren. Der Libanon sei immer von ausländischen Mächten abhängig gewesen. Früher war Frankreich die Schutzmacht, dann Syrien, jetzt wolle der Iran die Funktion übernehmen, was SaudiArabien auf den Plan rufe. Die Kunst der Libanesen sei es, dies alles auszubalancieren. „Darin sind wir Weltmeister“, meint ein Medizinstudent zuversichtlich, der im weißen Kittel zur Kaffeepause erscheint.
Zwischen 2014 und 2016 scheitern insgesamt 45 Versuche, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Hariri kehrte daraufhin aus dem Exil zurück und überzeugte seine Zukunftspartei, den von Syrien und der Hisbollah unterstützten christlichen Präsidentschaftskandidaten Michel Aoun durchzuwinken. Dadurch wurde für den Sunniten Hariri der Weg zu einer erneuten Amtszeit als Premierminister frei.
Denn seit dem Ende des 15 Jahre dauernden Bürgerkriegs 1990 gilt ein strikter Proporz zwischen Sunniten, Schiiten und Christen als Garant für eine Machtverteilung, die eine weitere kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Glaubensgemeinschaften verhindern soll. Präsident ist immer ein Christ, Premierminister ein Sunnit, Parla- mentspräsident ein Schiit. Der Proporz gilt aber nicht nur für politische Ämter, sondern auch für die Sicherheitskräfte. So ist die libanesische Armee christlich geprägt, die Polizei sunnitisch, die Hisbollah schiitisch. Die Wirtschaft wird von Familienclans dominiert, die ebenfalls dieses Muster reflektieren. Die sunnitische Familie Hariri spielt hier eine wichtige Rolle.
Doch der Bürgerkrieg in Syrien hat die Karten neu gemischt. Mehr als eine Million Flüchtlinge aus dem Nachbarland strömten in einen fragilen Staat, der selbst nur gut sechs Millionen Einwohner zählt. Außerdem wurde der Libanon mit dem massiven Eintritt der Hisbollah in den syrischen Bürgerkrieg aufseiten von Präsident Baschar al Assad unweigerlich zur Kriegspartei, was eine enorme Belastung für das politische Gefüge darstellt. Durch die enge Verbindung mit Iran wurde die Hisbollah enorm aufgerüstet und ist zur dominierenden Kraft in der Sicherheitsstruktur Libanons geworden. Um die Balance wenigstens ansatzweise wieder herzustellen, trainieren die USA und Frankreich jetzt die libanesische Armee.
Anders als in Jordanien oder in der Türkei, wo syrische Flüchtlinge zumeist in Lagern leben, sind sie im Libanon meist mitten unter der Bevölkerung. Im westlichen Beiruter Bezirk Hamra wird dies besonders deutlich: Arm und Reich wohnen Tür an Tür. In der Souraty-Straße stehen neben luxuriösen Apartmenthäusern unfertige Gebäude ohne Fenster, Türen und Balkone, in die Flüchtlinge eingezogen sind. Für ihre Privatsphäre haben sie not-
ZYPERN
Mittelmeer
Tripolis
LIBANON dürftig Tücher gespannt oder Grünpflanzen aufgestellt. Wasser holen sie mit Kanistern an bestimmten Ausgabestellen, Strom wird vom Nachbarhaus abgezwackt. Nur einen Steinwurf entfernt glitzern die Fassaden der Geschäfte in der bekannten Einkaufsstraße, die den Namen des Viertels trägt. Libanon wurde früher gerne die Schweiz des Orients genannt. Vergleicht man die Preise hier mit denen anderer Länder der Region, gilt dies auch heute noch.
Dass das Überleben Libanons von seiner Balance abhängt, hat die neuerliche Krise einmal mehr gezeigt. Darin sind sich mittlerweile alle Parteien einig. Selbst die schiitische Hisbollah, erbitterter Gegenspieler des sunnitischen Premiers, gibt sich plötzlich gemäßigter und versöhnlicher. Und der schiitische Parlamentspräsident Nabih Berri regte für die Anfang Mai anberaumten Parlamentswahlen sogar Allianzen jenseits der religiöser Linien an. Allerdings soll der Machtproporzbeibehalten werden. So will es das neue Wahlgesetz, das nach der Rückkehr des Premiers aus SaudiArabien verabschiedet wurde.