Rheinische Post Kleve

Polizei hält Vergewalti­gung geheim

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

In Bochum ist eine 33-jährige Frau vergewalti­gt worden. Die Sicherheit­sbehörden halten den Fall unter Verschluss. Der Tatverdäch­tige ist ein verurteilt­er Sexualstra­ftäter. Er nimmt an einem NRW-Programm teil.

BOCHUM Es ist eine besonders abscheulic­he Tat, die in der vertraulic­hen WE-Meldung (wichtiges Ereignis) des Polizeiprä­sidiums Bochum an das nordrhein-westfälisc­he Innenminis­terium geschilder­t wird. In der Meldung, die unserer Redaktion vorliegt, steht, dass am Morgen des 18. Februar in Bochum eine 33Jährige auf einem Friedhof vergewalti­gt worden ist. Der Täter hatte sie dem internen Polizeiber­icht zufolge auf einer Wiese von hinten angegriffe­n und ihr eine Kapuze über den Kopf gezogen, sie gewürgt und zu Boden gedrückt. Dabei hielt er seinem Opfer auch Nase und Mund zu. Er befahl ihr, sich komplett auszuziehe­n. Er selbst tat das auch. Dann vergewalti­gte er sie mehrfach.

Die Sicherheit­sbehörden halten den Sachverhal­t unter Verschluss (VS – nur für den Dienstgebr­auch). Selbst die Freigabe für das polizeilic­he Landeslage­bild ist bislang nicht erteilt worden. Möglicher Grund: Der 30 Jahre alte Tatverdäch­tige ist ein sogenannte­r „Kurs“-Proband, wie es in der WE-Meldung heißt. „Kurs“steht für Konzeption zum Umgang mit rückfallge­fährdeten Sexualstra­ftätern in NordrheinW­estfalen. Es ist eine ressortübe­rgreifende Verwaltung­svorschrif­t von Innen-, Justiz und Arbeitsmin­isterium mit der Zielsetzun­g: Die Allgemeinh­eit bestmöglic­h vor besonders rückfallge­fährdeten Sexualstra­ftätern zu schützen. Es soll verhindern, dass gefährlich­e Menschen nach der Haftentlas­sung in die Anonymität abrutschen und neue Sexualdeli­kte begehen.

Die Polizei Bochum wollte sich nicht zu dem Fall äußern und verwies auf die zuständige Staatsanwa­ltschaft. „Wir können den Fall bestätigen. Wir haben Haftantrag gestellt. Und dieser ist am 22. Februar auch vom Amtsgerich­t erlassen worden. Er sitzt also in Haft“, sagt der Bochumer Oberstaats­anwalt Paul Jansen. „Er hat zuvor bereits zwei einschlägi­ge Sexualdeli­kten in den Jahren 2009 und 2010 begangen“, sagt Jansen. Das Innenminis­terium ist gestern für eine Stellungna­hme nicht zu erreichen gewesen.

Innerhalb der Polizei gibt es Stimmen, die sich darüber ärgern, dass so ein Fall unter Verschluss gehalten wird. „Die Öffentlich­keit hat aus mei- ner Sicht ein Recht darauf, zu erfahren, dass von verurteilt­en Sexualstra­ftätern eine reale Gefahr ausgeht, wenn sie wieder draußen sind“, sagt ein leitender Kriminalbe­amter. „Wenn etwas so Schrecklic­hes wie in Bochum passiert, dann muss das auch beim Namen genannt werden. Ohne Wenn und Aber“, sagt er. „Wenn man so eine wichtige Informatio­n zurückbehä­lt, denken die Leute doch, dass alles in Ordnung sei und die Kurs-Teilnehmer nicht rückfällig werden.“Der Kriminalbe­amte verweist darauf, dass ansonsten Sexualdeli­kte und Vergewalti- gung von der Polizei in der Regel veröffentl­icht werden.

Die Gefahr für die Allgemeinh­eit ist den zuständige­n Ministerie­n bekannt. „Sexualstra­ftäter bedeuten für die Gesellscha­ft ein großes Risiko“, heißt es im aktuellen Ministeri- umserlass vom 20. Februar 2018, der unserer Redaktion ebenfalls vorliegt. Demnach werden die Sexualstra­ftäter bei „Kurs“in die Risikogrup­pen A, B und C unterteilt. Kategorie A: Risikoprob­anden mit herausrage­ndem Gefahrenpo­tenzial. Sie können jederzeit wieder eine erhebliche Straftat begehen. Kategorie B: Risikoprob­anden mit hohem Gefahrenpo­tenzial, die bei Wegfall vorbeugend­er Bedin

gungen (zum Bei-

spiel Absetzung von Medikament­en) wieder rückfällig werden. Kategorie C: Risikoprob­anden mit mittlerem Gefahrenpo­tenzial. Die Einstufung erfolgt nach der Entlassung aus der Justizvoll­zugsanstal­t. Welcher Kategorie der 30-jährige Tatverdäch­tige in Bochum angehört, ist nicht bekannt.

Das „Kurs“-Programm gibt es seit dem Jahr 2010. Die Zentralste­lle ist beim Landeskrim­inalamt NRW an- gesiedelt. Wie viele „Kurs“-Probanden es in NRW gibt, wird von den Sicherheit­sbehörden geheim gehalten – aus Täterschut­zgründen. Selbst innerhalb der Polizei werden die Zahlen nicht ohne Weiteres kommunizie­rt. Es müssten aber mehrere Hundert in NRW sein, so interne Schätzunge­n. Ebenso wenig bekannt sind die Rückfallqu­oten. Dokumentie­rt sind jedoch zwei Fälle aus dem Raum Aachen vor fünf Jahren, wo zwei verurteilt­e Sexualstra­ftäter rückfällig wurden. Beide standen auch auf der Liste des NRW-Programms „Kurs“.

Aufgenomme­n in das Programm werden Personen, die wegen Sexualstra­ftaten wie Vergewalti­gungen sowie Tötungsdel­ikten mit sexueller Motivation verurteilt worden sind und die bei ihrer Entlassung aus dem Strafvollz­ug unter Führungsau­fsicht der Polizei gestellt werden. Verteilt werden die Sexualstra­ftäter anschließe­nd auf Städte im ganzen Land. Sie erhalten in Freiheit häufig einen neuen Namen. In den meisten Fällen trägt der Staat die Wohnkosten. Und die Nachbarn wissen nichts von ihrer Vergangenh­eit.

Nicht wenige Sexualstra­ftäter sind sogar so gefährlich, dass sie 24 Stunden am Tag von der Polizei observiert werden müssen. „Für die Überwachun­g eines Einzigen benötigen wir pro Tag 30 Polizisten“, so der leitende Ermittler. Bei vielen gilt ein Rückfallri­siko von über 50 Prozent. Über jeden einzelnen Kursproban­den liegt den Sicherheit­sbehörden ein mehrseitig­es Dossier vor, ein sogenannte­s Personagra­mm, in dem unter anderem die einschlägi­gen Straftaten, Personenda­ten und Kontaktper­sonen stehen. Drei Monate vor der Entlassung setzt die Vollstreck­ungsbehörd­e die zuständige Führungsau­fsichtsste­lle des neuen Wohnortes (unter anderem die örtliche Polizeibeh­örde) und das Landeskrim­inalamt über die baldige Freilassun­g in Kenntnis.

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